Gundestrup-Platte
Ferner, zu den inneren Bestimmungen der Menschheit
gehört es, dass sie in diesem ihrem ersten Erdenleben mit Freiheit zum
Ausdrucke der Vernunft sich erbaue. Aber zuvörderst: aus nichts wird nichts, und die Vernunftlosigkeit kann nie zur Vernunft kommen;
wenigstens in Einem Puncte seines Daseyns daher muss das
Menschengeschlecht in seiner allerältesten Gestalt rein vernünftig
gewesen seyn, ohne alle Anstrengung oder Freiheit. Wenigstens in Einem
Puncte seines Daseyns, sage ich; denn der eigentliche Zweck seines
Daseyns ist doch nicht das Vernünftigseyn, sondern das Vernünftigwerden
durch Freiheit, und das erstere ist nur das Mittel und die
unerlassliche Bedingung des letzteren; wir sind daher zu keinem
weitergehenden Schlusse berechtigt, als zu dem, dass der Zustand der
absoluten Vernünftigkeit nur irgendwo vorhanden gewesen seyn müsse.
Wir
werden von diesem Schlusse ausgetrieben zur Annahme eines
ursprünglichen Normalvolkes, das durch sein blosses Daseyn, ohne alle
Wissenschaft oder Kunst, sich im Zustande der vollkommenen
Vernunftcultur befunden habe. Nichts aber verhindert zugleich
anzunehmen, dass zu derselben Zeit über die ganze Erde zerstreut scheue
und rohe erdgeborene Wilde, ohne alle Bildung, ausser der dürftigen, für
die Möglichkeit der Erhaltung ihrer sinnlichen Existenz, gelebt haben;
denn der Zweck des menschlichen Daseyns ist nur: das sich Bilden zur
Vernunft, und dieses kann an diesen erdgeborenen Wilden gar füglich von
jenem Normalvolke aus vollbracht werden.
Diesem zufolge wolle keine Geschichte weder die
Entstehung der Cultur überhaupt, noch die Bevölkerung der verschiedenen
Erdstriche erklären! – An den mühsamen Hypothesen, welche besonders über
den letzteren Punct in allen Reisebeschreibungen aufgehäuft sind, ist
unseres Erachtens Mühe und
/ Arbeit verloren. Vor nichts aber hüte – sowohl die Geschichte, als
eine gewisse Halbphilosophie – sich mehr, als vor der völlig
unvernünftigen und allemal vergeblichen Mühe, die Unvernunft durch
allmählige Verringerung ihres Grades zur Vernunft hinaufzusteigern; und,
wenn man ihnen nur die hinlängliche Reihe von Jahrtausenden giebt, von
einem Orang-Outang zuletzt einen Leibnitz oder Kant abstammen zu lassen!
Die Geschichtserzählung hängt sich nur an das
Neue, worüber sich einmal einer gewundert; an das gegen vorhergehendes
und nachfolgendes, Abstechende. Darum gab es im Normalvolke, und es giebt von
ihm keine Geschichtserzählung. Unter der Leitung ihres Instinctes floss
ihnen ein Tag ab wie der andere, und Ein individuelles Leben wie jedes
andere. Alles wuchs von selber in Ordnung und Sitte hinein; und es
konnte da nicht einmal eine Wissenschaft geben oder eine Kunst, – ausser
der Religion, die allein ihre Tage verschönte und dem Einförmigen eine
Beziehung gab auf das Ewige. Ebensowenig konnte es eine
Geschichtserzählung gellen unter den erdgeborenen Wilden; denn auch
ihnen verfloss ein Tag wie der andere; nur dadurch unterschieden, dass
sie an diesem Nahrung in Fülle fanden, an dem anderen leer ausgingen,
niederfallend am ersten vor Uebersättigung, wie am zweiten vor
Entkräftung, um wiederum zum Kreislaufe, der zu nichts führte, zu
erwachen.
Blieben die
Sachen in dieser Verfassung, und die absolute, sich selbst nicht für
Cultur, sondern für Natur haltende Cultur, sowie die absolute Uncultur
voneinander geschieden: so konnte es theils zu keiner Geschichte kommen.
theils, was mehr ist, wurde der Zweck des Daseyns des
Menschengeschlechtes nicht erreicht. Das Normalvolk musste daher durch
irgend ein Ereigniss aus seinem Wohnplatze vertrieben und derselbe ihm
verschlossen werden; und es musste zerstreut werden über die Sitze der
Uncultur. Nun erst konnte beginnen der Process der freien Entwickelung
des Menschengeschlechtes und die, das Unerwartete und neue aufzeichnende
Geschichte, die jenen Process begleitet: denn erst jetzt wurden die
zerstreuten Abkömmlinge des Normalvolkes bewundernd inne, dass nicht
alles so seyn müsse, wie bei ihnen, sondern dass es ganz anders seyn
könne, /
weil es eben anders sich fand; und die Erdgeborenen, nachdem sie zur
Besonnenheit gekommen waren, bekamen noch viel mehr Wunderbares zum
Aufzeichnen. Erst in diesem Conflicte der Cultur und der Rohheit
entwickelten sich – ausser der Religion, die so alt ist als die Welt,
und von dem Daseyn der Welt unabtrennlich, – die Keime aller Ideen und
aller Wissenschaften, als der Kräfte und Mittel um die Rohheit zu Cultur
zu führen.
Alles soeben aufgezählte wird durch blosse
Existenz einer Geschichte vorausgesetzt; weit entfernt, dass diese über
ihre eigene Geburtsstunde sich noch eine Stimme anmaassen dürfte.
Schlüsse aus dem factischen Zustande, bei welchem sie anhebt, auf den
vorhergegangenen; besonders Schlüsse aus den factisch sich vorfindenden,
und insofern selbst zu einem Factum werdenden Mythen, werden, besonders
wenn sie der Logik gemäss sind, mit allem Danke aufgenommen werden: nur
wisse man, dass es Schlüsse sind keinesweges aber Geschichte, und
scheuche uns, falls wir etwa die Schlussform näher untersuchen, nicht
abermals mit dem Schreckworte: Factum, zurück. Dies sey die erste
beiläufige Bemerkung hierbei, und die zweite folgende: Jedem, der eine
Uebersicht hat über das Ganze der Geschichte, – welche überhaupt
seltener ist, als die Kenntniss einzelner Curiosen, – und der besonders
das Allgemeine und immer sich Gleichbleibende in ihr erfasst hat, dürfte
hier ein Licht aufgehen über die wichtigsten Probleme in der
Geschichte, z.B.: wie die an Farbe und Körperbau so verschiedenen Racen
des Menschengeschlechtes möglich seyen; warum zu aller Zeit, bis auf den
heutigen Tag, die Cultur immer nur durch fremde Ankömmlinge verbreitet
worden, welche mehr oder minder wilde Urbewohner der Länder vorfinden;
woher die Ungleichheit unter den Menschen entstanden, welche wir
allenthalben, wo irgend eine Geschichte beginnt, antreffen u. dergl.
mehr.
Alles aufgestellte, sage ich, musste seyn, wenn
ein Menschengeschlecht seyn sollte; das letztere aber musste schlechthin
seyn, mithin musste auch jenes seyn: – so weit reicht die Philosophie. /
Das Daseyn dieser Mythe vor aller anderen Geschichte vorher ist das
erste Factum der Geschichte und ihr eigentlicher Anfang, der ebendarum
sich nicht selber aus einem früheren Factum erklären kann: der Inhalt
derselben ist nicht Geschichte, sondern Philosophem; welches keinen
weiter bindet, als inwiefern es durch sein eigenes Philosophiren
bestätigt wird.
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Die Grundzüge des gegewärtigen Zeitalters, SW VII, S. 133ff.; 138
Nota.
Ist
der Damm einmal gebrochen, ist erst das Konstruieren aus dogmatischen
Prämissen wieder erlaubt, dann gibt es für die Spekulation kein Maß, und
sie kann ungeniert Blasen schlagen. Ja, wenn die Vernunft eine ausgemachte Sache sein soll und kein problematisches Projekt, dann lässt sich die Frage, wo sie herkam, nicht umgehen, denn "aus nichts wird nichts". Und wenn die Mythe - so
nennt er sie selbst - vom "Normalvolk" auch noch so aus den Fingern
gesogen scheint: Es "muss" so gewesen sein! Wenn die Vernunft nicht geworden ist, muss sie fix und fertig dagewesen sein, und zwar irgendwo und irgendwann.
Dass damit das Mysterium noch lange nicht enthüllt wäre, muss "den Philosophen" nicht beirren. Er hat seine Arbeit getan und bewiesen, was zu beweisen war. Die Vernunft ist (d. h. war), doch die Menschen sollen vernünftig erst werden. Und nicht etwa: Vernunft wird sein, indem die Menschen sich der Vernünftigkeit befleißigen - letzteres wäre der Standpunkt eines nicht-dogmatischen, eines Kritischen und Transzendentalphilosophen.
JE
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