Montag, 26. Mai 2014

Auf Biegen und Brechen: die Mythe vom Normalvolk.

Gundestrup-Platte

Ferner, zu den inneren Bestimmungen der Menschheit gehört es, dass sie in diesem ihrem ersten Erdenleben mit Freiheit zum Ausdrucke der Vernunft sich erbaue. Aber zuvörderst: aus nichts wird nichts, und die Vernunftlosigkeit kann nie zur Vernunft kommen; wenigstens in Einem Puncte seines Daseyns daher muss das Menschengeschlecht in seiner allerältesten Gestalt rein vernünftig gewesen seyn, ohne alle Anstrengung oder Freiheit. Wenigstens in Einem Puncte seines Daseyns, sage ich; denn der eigentliche Zweck seines Daseyns ist doch nicht das Vernünftigseyn, sondern das Vernünftigwerden durch Freiheit, und das erstere ist nur das Mittel und die unerlassliche Bedingung des letzteren; wir sind daher zu keinem weitergehenden Schlusse berechtigt, als zu dem, dass der Zustand der absoluten Vernünftigkeit nur irgendwo vorhanden gewesen seyn müsse.

Wir werden von diesem Schlusse ausgetrieben zur Annahme eines ursprünglichen Normalvolkes, das durch sein blosses Daseyn, ohne alle Wissenschaft oder Kunst, sich im Zustande der vollkommenen Vernunftcultur befunden habe. Nichts aber verhindert zugleich anzunehmen, dass zu derselben Zeit über die ganze Erde zerstreut scheue und rohe erdgeborene Wilde, ohne alle Bildung, ausser der dürftigen, für die Möglichkeit der Erhaltung ihrer sinnlichen Existenz, gelebt haben; denn der Zweck des menschlichen Daseyns ist nur: das sich Bilden zur Vernunft, und dieses kann an diesen erdgeborenen Wilden gar füglich von jenem Normalvolke aus vollbracht werden.

Diesem zufolge wolle keine Geschichte weder die Entstehung der Cultur überhaupt, noch die Bevölkerung der verschiedenen Erdstriche erklären! – An den mühsamen Hypothesen, welche besonders über den letzteren Punct in allen Reisebeschreibungen aufgehäuft sind, ist unseres Erachtens Mühe und /  Arbeit verloren. Vor nichts aber hüte – sowohl die Geschichte, als eine gewisse Halbphilosophie – sich mehr, als vor der völlig unvernünftigen und allemal vergeblichen Mühe, die Unvernunft durch allmählige Verringerung ihres Grades zur Vernunft hinaufzusteigern; und, wenn man ihnen nur die hinlängliche Reihe von Jahrtausenden giebt, von einem Orang-Outang zuletzt einen Leibnitz oder Kant abstammen zu lassen!

Die Geschichtserzählung hängt sich nur an das Neue, worüber sich einmal einer gewundert; an das gegen vorhergehendes und nachfolgendes, Abstechende. Darum gab es im Normalvolke, und es giebt von ihm keine Geschichtserzählung. Unter der Leitung ihres Instinctes floss ihnen ein Tag ab wie der andere, und Ein individuelles Leben wie jedes andere. Alles wuchs von selber in Ordnung und Sitte hinein; und es konnte da nicht einmal eine Wissenschaft geben oder eine Kunst, – ausser der Religion, die allein ihre Tage verschönte und dem Einförmigen eine Beziehung gab auf das Ewige. Ebensowenig konnte es eine Geschichtserzählung gellen unter den erdgeborenen Wilden; denn auch ihnen verfloss ein Tag wie der andere; nur dadurch unterschieden, dass sie an diesem Nahrung in Fülle fanden, an dem anderen leer ausgingen, niederfallend am ersten vor Uebersättigung, wie am zweiten vor Entkräftung, um wiederum zum Kreislaufe, der zu nichts führte, zu erwachen.

Blieben die Sachen in dieser Verfassung, und die absolute, sich selbst nicht für Cultur, sondern für Natur haltende Cultur, sowie die absolute Uncultur voneinander geschieden: so konnte es theils zu keiner Geschichte kommen. theils, was mehr ist, wurde der Zweck des Daseyns des Menschengeschlechtes nicht erreicht. Das Normalvolk musste daher durch irgend ein Ereigniss aus seinem Wohnplatze vertrieben und derselbe ihm verschlossen werden; und es musste zerstreut werden über die Sitze der Uncultur. Nun erst konnte beginnen der Process der freien Entwickelung des Menschengeschlechtes und die, das Unerwartete und neue aufzeichnende Geschichte, die jenen Process begleitet: denn erst jetzt wurden die zerstreuten Abkömmlinge des Normalvolkes bewundernd inne, dass nicht alles so seyn müsse, wie bei ihnen, sondern dass es ganz anders seyn könne, / weil es eben anders sich fand; und die Erdgeborenen, nachdem sie zur Besonnenheit gekommen waren, bekamen noch viel mehr Wunderbares zum Aufzeichnen. Erst in diesem Conflicte der Cultur und der Rohheit entwickelten sich – ausser der Religion, die so alt ist als die Welt, und von dem Daseyn der Welt unabtrennlich, – die Keime aller Ideen und aller Wissenschaften, als der Kräfte und Mittel um die Rohheit zu Cultur zu führen.

Alles soeben aufgezählte wird durch blosse Existenz einer Geschichte vorausgesetzt; weit entfernt, dass diese über ihre eigene Geburtsstunde sich noch eine Stimme anmaassen dürfte. Schlüsse aus dem factischen Zustande, bei welchem sie anhebt, auf den vorhergegangenen; besonders Schlüsse aus den factisch sich vorfindenden, und insofern selbst zu einem Factum werdenden Mythen, werden, besonders wenn sie der Logik gemäss sind, mit allem Danke aufgenommen werden: nur wisse man, dass es Schlüsse sind keinesweges aber Geschichte, und scheuche uns, falls wir etwa die Schlussform näher untersuchen, nicht abermals mit dem Schreckworte: Factum, zurück. Dies sey die erste beiläufige Bemerkung hierbei, und die zweite folgende: Jedem, der eine Uebersicht hat über das Ganze der Geschichte, – welche überhaupt seltener ist, als die Kenntniss einzelner Curiosen, – und der besonders das Allgemeine und immer sich Gleichbleibende in ihr erfasst hat, dürfte hier ein Licht aufgehen über die wichtigsten Probleme in der Geschichte, z.B.: wie die an Farbe und Körperbau so verschiedenen Racen des Menschengeschlechtes möglich seyen; warum zu aller Zeit, bis auf den heutigen Tag, die Cultur immer nur durch fremde Ankömmlinge verbreitet worden, welche mehr oder minder wilde Urbewohner der Länder vorfinden; woher die Ungleichheit unter den Menschen entstanden, welche wir allenthalben, wo irgend eine Geschichte beginnt, antreffen u. dergl. mehr.

Alles aufgestellte, sage ich, musste seyn, wenn ein Menschengeschlecht seyn sollte; das letztere aber musste schlechthin seyn, mithin musste auch jenes seyn: – so weit reicht die Philosophie. / 

Das Daseyn dieser Mythe vor aller anderen Geschichte vorher ist das erste Factum der Geschichte und ihr eigentlicher Anfang, der ebendarum sich nicht selber aus einem früheren Factum erklären kann: der Inhalt derselben ist nicht Geschichte, sondern Philosophem; welches keinen weiter bindet, als inwiefern es durch sein eigenes Philosophiren bestätigt wird.

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Die Grundzüge des gegewärtigen Zeitalters, SW VII, S. 133ff.; 138 



Nota.

Ist der Damm einmal gebrochen, ist erst das Konstruieren aus dogmatischen Prämissen wieder erlaubt, dann gibt es für die Spekulation kein Maß, und sie kann ungeniert Blasen schlagen. Ja, wenn die Vernunft eine ausgemachte Sache sein soll und kein problematisches Projekt, dann lässt sich die Frage, wo sie herkam, nicht umgehen, denn "aus nichts wird nichts". Und wenn die Mythe - so nennt er sie selbst - vom "Normalvolk" auch noch so aus den Fingern gesogen scheint: Es "muss" so gewesen sein! Wenn die Vernunft nicht geworden ist, muss sie fix und fertig dagewesen sein, und zwar irgendwo und irgendwann

Dass damit das Mysterium noch lange nicht enthüllt wäre, muss "den Philosophen" nicht beirren. Er hat seine Arbeit getan und bewiesen, was zu beweisen war. Die Vernunft ist (d. h. war), doch die Menschen sollen vernünftig erst werden. Und nicht etwa: Vernunft wird sein, indem die Menschen sich der Vernünftigkeit befleißigen - letzteres wäre der Standpunkt eines nicht-dogmatischen, eines Kritischen und Transzendentalphilosophen.
JE


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