Dienstag, 13. Mai 2014

Es muss ja endlich besser werden.


Guercino, Aurora, 1621
 
Ich kann mir die gegenwärtige Lage der Menschheit schlechthin nicht denken als diejenige, bei der es nun bleiben könne; schlechthin nicht denken als ihre ganze und letzte Bestimmung. Dann wäre alles Traum und Täuschung; und es wäre [265/] nicht der Mühe werth, gelebt, und dieses stets wiederkehrende, auf nichts ausgehende, und nichts bedeutende Spiel mit getrieben zu haben. Nur inwiefern ich diesen Zustand betrachten darf, als Mittel eines besseren, als Durchgangspunct zu einem höheren und vollkommneren, erhält er Werth für mich; nicht um sein selbst sondern um des Besseren willen, das er vorbereitet, kann ich ihn tragen, ihn achten, und in ihm freudig das Meinige vollbringen. In dem Gegenwärtigen kann mein Gemüth nicht Platz fassen, noch einen Augenblick ruhen; unwiderstehlich wird es von ihm zurückgestossen; nach dem Künftigen und Besseren strömt unaufhaltsam hin mein ganzes Leben. ...

Noch erringet mit Mühe unser Geschlecht seinen Unterhalt und seine Fortdauer von der widerstrebenden Natur. Noch ist die grössere Hälfte der Menschen ihr Leben hindurch unter harte Arbeit gebeugt, um sich und der kleinen Hälfte, die für sie denkt, Nahrung zu verschaffen; sind unsterbliche Geister [266/] genöthigt, alles ihr Dichten und Trachten, und ihre ganze Anstrengung auf den Boden zu heften, der ihre Nahrung trägt. Noch ereignet es sich oft, dass, wenn nun der Arbeiter vollendet hat, und für seine Mühe sich seine und seiner Mühe Fortdauer verspricht, eine feindselige. Witterung in einem Augenblicke zerstört, was er Jahrelang langsam und wohlbedächtig verbreitete, und den fleissigen und sorgfältigen Mann, unverschuldet, dem Hunger und dem Elende Preis giebt; noch immer oft genug, dass Wasserfluthen, Sturmwinde, Vulkane, ganze Länder verheeren, und Werke, die das Gepräge eines vernünftigen Geistes tragen, mit ihren Werkmeistern zugleich dem wilden Chaos des Todes und der Zerstörung vermischen. Noch raffen Krankheiten die Menschen ins unzeitige Grab, Männer in der Blüthe ihrer Kräfte, und Kinder, deren Daseyn ohne Frucht und Folge vorübergeht; noch ziehen Seuchen durch blühende Staaten, lassen die wenigen, die ihnen entgehen, verwaist und des gewohnten Beistandes ihrer Genossen beraubt, einsam dastehen, und thun alles, was an ihnen ist, um das Land der Wildniss zurückzugeben, welches der Fleiss der Menschen sich schon zum Eigenthume errungen hatte. – 


So ist es: so kann es nicht immerdar bleiben sollen. Kein Werk, das das Gepräge der Vernunft trägt, und unternommen wurde, um die Macht der Vernunft zu erweitern, kann rein verloren seyn im Fortgange der Zeiten. ...

Aber es ist nicht die Natur, es ist die Freiheit selbst, die die meisten und die fürchterlichsten Unordnungen unter unserem Geschlechte verursacht, des Menschen grausamster Feind ist der Mensch. Noch durchirren gesetzlose Horden von Wilden ungeheure Wüsteneien; sie begegnen sich in der Wüste, und werden einander zur festlichen Speise; oder, wo die Cultur die wilden Haufen endlich unter das Gesetz zu Völkern vereinigte, greifen die Völker einander an mit der Macht, die ihnen die Vereinigung gab und das Gesetz. Den Mühseligkeiten und dem Mangel trotzend, durchziehen die Heere friedlich Wald und Feld; sie erblicken einander, und der Anblick von ihres Gleichen ist des Mordes Losung. Mit dem Höchsten, was der menschliche Verstand ersonnen, ausgerüstet, durchschneiden die Kriegsflotten den Ocean; durch Sturm und Wellen hindurch drängen sich Menschen, um auf der einsamen unwirthbaren Fläche Menschen zu suchen; sie finden sie, und trotzen der Wuth der Elemente, um mit eigener Hand sie zu vertilgen. 


Im Innern der Staaten selbst, wo die Menschen zur Gleichheit unter dem Gesetze vereinigt zu seyn scheinen, ist es grossen Theils noch immer Gewalt und List, was unter dem ehrwürdigen Namen des Gesetzes herrscht; hier wird der Krieg um so schändlicher geführt, weil er sich nicht als Krieg ankündigt, und dem Befehdeten sogar den Vorsatz raubt, sich gegen ungerechte Gewalt zu vertheidigen. Kleinere Verbindungen freuen sich laut der Unwissenheit, der Thorheit, des Lasters und des Elendes, in welche die grösseren Haufen ihrer Mitbrüder versunken sind, machen es sich laut zum angelegensten Zwecke, sie darin zu erhalten, und sie tiefer hineinzustürzen, damit sie dieselben ewig zu Sklaven behalten; – und jeden zu verderben, der es wagen sollte, sie zu erleuchten und zu verbessern. Noch kann überall kein Vorsatz irgend einer Verbesserung gefasst werden, der nicht ein Heer der mannigfaltigsten, selbstsüchtigen Zwecke aus ihrer Ruhe [269/] aufrege, und zum Kriege reize; der nicht die verschiedensten und einander widersprechendsten Denkarten zum einmüthigen Kampfe gegen sich verbinde. Das Gute ist immer das schwächere, denn es ist einfach, und kann nur um sein selbst willen geliebt werden; das Böse lockt jeden Einzelnen mit der Versprechung, die für ihn die verführendste ist, und die Verkehrten, unter sich selbst im ewigen Kampfe, schliessen Waffenstillstand, sobald das Gute sich blicken lässt, um diesem mit der vereinigten Kraft ihres Verderbens entgegenzugehen. ...

Ewig fortgehen wird? Nimmermehr; wenn nicht das ganze menschliche Daseyn ein zweckloses und nichts bedeutendes Spiel ist. – Jene wilden Stämme können nicht immer wild bleiben sollen: es kann kein Geschlecht erzeugt seyn mit allen Anlagen zur vollkommenen Menschheit, das da bestimmt wäre, diese Anlagen nie zu entwickeln, und nie mehr zu werden, als das, wozu die Natur eines künstlicheren Thieres völlig hinreichte. Jene Wilden sind bestimmt, die Stammväter kräftiger, gebildeter und würdiger Generationen zu seyn; ausserdem liesse sich kein Zweck ihres Daseyns denken, noch die Möglichkeit dieses Daseyns in einer vernünftig eingerichteten Welt begreifen. Wilde Stämme können cultivirt werden, denn sie sind es schon geworden, und die cultivirtesten Völker der neuen Welt stammen selbst von Wilden ab. Ob nun die Bildung unmittelbar aus der menschlichen Gesellschaft sich natürlich entwickle, oder ob sie immer durch Unterricht und Beispiel von aussen kommen müsse; und die erste Quelle aller menschlichen Cultur in einem übermenschlichen Unterrichte zu suchen sey: – auf demselben Wege, auf welchem die ehemaligen Wilden nunmehr zur Cultur gelangt sind, werden allmählig auch die gegenwärtigen sie erhalten. Sie werden allerdings durch dieselben Gefahren und Verderbnisse der ersten bloss sinnlichen Cultur hindurchgehen, von welchen gegenwärtig die gebildeten Völker gedrückt sind; aber sie werden dadurch denn doch in Vereinigung mit dem grossen Ganzen der Menschheit treten, und fähig werden, an den weiteren Fortschritten desselben Antheil zu nehmen. –

Es ist die Bestimmung unseres Geschlechtes, sich zu einem einigen, in allen seinen Theilen durchgängig mit sich selbst bekannten, und allenthalben auf die gleiche Weise ausgebildeten Körper zu vereinigen. Die Natur, und selbst die Leidenschaften und Laster der Menschen haben von Anfang an gegen [271/] dieses Ziel hingetrieben; es ist schon ein grosser Theil des Weges zu ihm zurückgelegt, und es lässt sich sicher darauf rechnen, dass dasselbe, die Bedingung der weiteren gemeinschaftlichen Fortschritte, zu seiner Zeit erreicht seyn werde. [272]

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Die Bestimmung des Menschen, SW II, S. 265-72


Nota. 

'Ich kann mir ... schlechthin nicht denken...' - nämlich weil ich schlechtin vernünftig denke, und was die Vernunft mir gebietet, weiß zwar nicht ich im Voraus, aber... - na, 'sie selber' weiß es zwar auch nicht, aber da sie eben nicht anders kann als vernünftig sein, steht es virtuell schon heute fest. -

Das ist der rationalistische Zirkel, die rationalistischen Fiktion, von der er sich bei aller transzendentalen Radikalität dann doch nicht freigemacht hatte.

Darüber soll aber nicht vergessen werden, wie salopp er die Pflichten, die die Anghörigen einer Gemeinschaft gegeneinander haben, mit den Pflichten vermengt, die ich gegen mich selber habe; und selbst mit der bloßen Folgerichtigkeit meines Denkens! Er tut, was ihm alle liberalen Gesundbeter seither vorgeworfen haben: Er leitet aus einem allgemeinen Begriff die persönliche Moralität ab, zu der der Einzelne verpflichtet ist - und die Verpflichtung zu dieser einen, bestimmten politischen Gesinnung. Er argumentiert, man kann es nicht anders sagen, totalitär. 

Dabei wäre es der Sache nach gar nicht notwendig.
JE


 

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