Dienstag, 17. März 2015

Ästhetische Philosophie.




Auf dem gemeinen Standpunkt erscheint die Welt als gegeben, auf dem transzendentalen [als] gemacht, (alles in mir), auf dem ästhetischen erscheint sie als gegeben, so als ob wir sie gemacht hätten und wie wir selbst sie machen würden. (vid. Sittenlehre von den Pflichten des ästhetischen Künstlers.)

Der Wille erscheint dem ästhetischen Sinne frei; dem gemeinen als Produkt des Zwangs, z. B. jede Begrenzung im Raume ist Resultat der Begrenztheit des Dinges durch andere, denn sie werden dabei gepresst; jede Ausbreitung ist auch Resultat des inneren Aufstrebens der Körper, allenthalben Fülle, Freiheit, ersterer ist unästhetisch, letzter ist der ästhetische.

Das ist der ästhetische Sinn, aber die Wissenschaft ist etwas anderes. Die Wissenschaft ist der Form nach transzendental, sie ist Philosophie, sie beschreibt die ästhetische Ansicht, in solcher Ästhetik muss nicht ein schöner Geist sein; die ästhetische Philosophie ist ein Hauptteil der Wissenschaft und ist der ganzen anderen Philosophie, die man die reelle nennen könnte, entgegengesetzt. 

Der Einteilungsgrund ist der Gesichtspunkt, welcher entgegengesetzt ist. In materialer Ansicht liegt sie zwischen theoretischer und praktischer Philosophie in der Mitte. Sie fällt nicht mit der Ethik zusammen, denn unserer Pflichten sollen wir uns bewusst werden; allein die ästhetische Ansicht ist natürlich und instinktmäßig und dependiert nicht von der Freiheit. 

Dieser Gesichtspunkt ist es, durch den man sich zum transzendentalen erhebt; so folgt, dass der Philosoph ästhetischen Sinn, d. h. Geist haben müsse; er ist deshalb nicht notwendig ein Dichter, Schönschreiber, Schönredner; aber derselbe Geist, durch dessen Ausbildung man ästhetisch wird, derselbe Geist muss den Philosophen beleben, und ohne diesen Geist wird man es in der Philosophie nie zu etwas bringen; sonst plagt man sich mit dem Buchstaben und dringt nicht in des Innere.

Finitum d. 14. März 1799
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 244


Nota. - Dieser zweite Vortrag der Wissenschaftslehre "nach neuer Methode" endete Mitte März 1799. Da war der Atheismusstreit längst in vollem Gange. Noch zu diesem fortgeschrittenen Zeitpunkt schließt Fichte die Darstellung seiner prima philosophia so, dass kein Zweifel bleibt: als nächstes ist die Ausarbeitung der "ästheti- schen Philosophie" als ein "Hauptteil" seines spekulativen Geschäfts vorgesehen. Die von Giorgia Cecchinato* dazu zusammengetragenen philologischen Daten lassen wenig Raum für andere Deutungen. 

Wenige Tage nach Abschluss der Vorlesung reichten Fichte und Niethammer ihre jeweiligen "Verantwortungs- schriften" gegen den Atheismus-Vorwurf beim weimarischen Ministerium ein. Dass die Angelegenheit bis zur Entfernung Fichtes von seinem Lehrstuhl führen würde, war noch nicht abzusehen. Die aber hat dann alle andern Pläne umgestoßen.

Ob Fichte bei der Ausarbeitung seiner Ästhetik zu dem Schluss gelangt wäre, die Ethik der Ästhetik als einen Spezialfall unterzuordnen, wie Herbart es später tat, steht in den Sternen. Es hätte seine Logik, und Herbart dürfte seine eigenen Ergebnisse aus der Auseinandersetzung mit Fichtes Sittenlehre gewonnen haben. 

Der entscheidende Punkt ist: Auch die Ethik gebietet, wie die Ästhetik, immer "einzeln und unmittelbar", und diesen Punkt hat nicht nur Herbart, sondern vor ihm schon Novalis aus Fichtes Vortrag herausgehört. Allgemeine Gesetze sind der Moralität sowohl für Herbart als für Novalis direkt entgegengesetzt. Was anders als diese kann Fichte aber gemeint haben, wenn er oben sagt: "unserer Pflichten sollen wir uns bewusst werden"? Denn dass ich mir im gegebenen Moment dessen, was ich unmittelbar soll, 'bewusst' werde und mir 'einen Begriff davon' mache, liegt ja auf der Hand, aber das ist beim Ästhetischen auch nicht anders.

Und ob sich Fichte zu dem Entschluss hätte durchringen mögen, das Wahre-Absolute-Unbedingte als eine ästhetische Idee aufzufassen, ist noch weniger gewiss. Logisch gibt es eigentlich keinen andern Weg, aber das Herz kennt manchmal Gründe, von denen der Verstand nichts ahnt.
JE

*) Giorgia Cecchinato, Fichte und das Problem einer Ästhetik, Würzburg 2009








Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.

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