Dienstag, 31. März 2015
Die 'Reihe vernünftiger Wesen' ist dem Individuum als eine Aufforderung vorgegeben.
Dieser Begriff der Selbstheit als Person ist nicht möglich ohne Begriff von einer Vernunft außer uns; dieser Begriff wird also auch konstruiert durch Herausgreifen aus einer höheren, weiteren Sphäre. Die erste Vorstel-lung, die ich haben kann, ist sie Aufforderung meiner als Individuum zu einem freien Wollen.
Dies ist eine Erkenntnis, wie wir sie suchten, in welcher das Wollen gleich drinnen läge, mit ihrer Erkenntnis ist ein Wille begleitet. Sinnlich betrachtet ist es so: Entweder ich handle nach dem Willen oder nicht; habe ich die Aufforderung verstanden, so entschließe ich mich doch durch Selbstbestimmung, nicht zu handeln, der Auf-forderung zu widerstreben, und handle durch Nicht-Handeln.
Freilich muss die Aufforderung verstanden sein, dann muss man aber handeln, auch wenn man ihr nicht ge-horcht, in jedem Falle äußere ich meine Freiheit. So müssen wir's uns jetzt denken. Aber man kann höher fra-gen: Welches ist der transzendentale Grund dieser Behauptung? Der Zweck wird uns mit der Aufforderung gegeben, also die individuelle Vernunft lässt sich aus sich selbst nicht erklären, [das ist] das wichtigste Resultat, es besteht nur im Ganzen durchs Ganze und als Teil des Ganzen; denn wie soll sonst Kenntnis eines Vernunft-wesens außer ihm zu erklären [sein,] wenn in ihm keine Mangel ist?
Wir haben uns die Mühe gegeben, den Zweckbegriff zu erklären, da kamen wir in einen Zirkel. Nun aber ist sie beantwortet, denn im Fortlaufe der Vernunft ists damit nicht schwer, es ist nur darum zu tun, den ersten Zweckbegriff dar-/zulegen. Den ersten aber bekommen wir, doch wird uns der Zweck nicht als Bestimmtes, sondern überhaupt der Form nach gegeben, etwas, woraus wir wählen können. ... Kein Individuum kann sich aus sich selbst erklären. Wenn man also auf ein erstes Individuum kommt, worauf man kommen muss, so muss man auch ein noch höheres unbegreifliches Wesen annehmen.
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 177f.
Nota I. - Wieso aber sollte man das Individuum in und aus der Transzendentalphilosophie erklären wollen? Die Transzendentalphilosophie beschäftigt sich mit dem, was an den Individuen Ichheit ist. Außer Ichheit sind sie auch noch Leib, Stoffwechsel, Leidenschaft und vieles mehr. Reicht das nicht aus, um aus abstrakten Vernunft-wesen lebendige Individuen zu machen?
Es ist wahr, in einem großen Quantum - um im Bilde zu bleiben - von Leib, Stoffwechsel und gar Leiden-schaft hat Vernunft nichts zu suchen, es sei denn als ihre Grenze. Und eben darum sind die wirklichen Men-schen in der 'Reihe vernünftiger Wesen' unaustauschbare Individuen. Denn historisch ist es ja andersrum: Leib, Stoffwechsel und Leidenschaften verfolgen vor jeder Vernunft in der sinnlichen Welt ihre Zwecke ohne allen Begriff. Vernunft und die Erfordernis, ihre Zwecke in Begriffe zu fassen, ergeben sich erst daraus, dass sich in der sinnlichen Welt ihre Wege kreuzen und schon immer gekreuzt haben. Die individuelle Vernunft entsteht daraus, dass das sinnliche Individuum von der Reihe der andern freien Wesen zur Vernunft aufgefordert wird; aufgefordert wird, seine Freiheit gegen seine Sinnlichkeit geltend zu machen. Die Individualität ist in der Welt das, was am wenigsten der Erklärung bedarf.
Dass er in der Wissenschaftslehre ein "noch höheres unbegreifliches Wesen" unterbringen will, ist im Übrigen aus dem längst ausgebrochenen Atheismusstreit zu erklären; biographisch, aber nicht logisch.
Nota II.- Das höhere Wesen, das man "annehmen" muss, ist eine bürgerliche Gesellschaft von (zumindest dem Begriff nach) Freien und Gleichen, nämlich Marktsubjekten, und die ist nicht unbegreiflich, sondern, da sie hi-storisch gegeben ist, auch in ihrer tatsächlichen Entstehung beobachtbar. Sie ist die a priori vorausgesetzte Ver-nünftigkeit, die den empirischen Personen als eine Aufforderung begegnet.
JE
Nota III. – Nota I. ist der Kommentar von einem, der in die Wissenschaftslehre noch nicht weit genug eingedrungen war. – Auch das Individuum ist in der Wissenschaftslehre nicht das, was in Biologie oder Psychologie so heißt. Es ist vielmehr das bestimmte einzelne vernünftige Wesen in seinem Verhältnis – und Gegensatz – zu den anderen vernünftigen Wesen. Was nicht zu seiner Vernünftigkeit gehört – Sinnlichkeit, Leidenschaft, Irrtum – , kommt noch nicht in Betracht.
Individuum im Sinne der Wissenschaftslehre ist derjenige, der auf dem Weg der Bestimmung seines Wollens in der Reihe all der andern vernünftigen Individuen schon ein gewisses Stück zurückgelegt hat.
Und genau besehen ist vernünftig überhaupt erst seine Wechselwirkung mit jenen.
JE, im Februar 2016
Montag, 30. März 2015
Problematische Vernünftigkeit oder dogmatische Vernunft?
Es soll ein reiner Wille zu Grunde liegen, nicht ein empirisches Wollen, oder Vernunft überhaupt, oder Abso- lutheit des Vernunftreichs, welches bis jetzt noch unverständlich ist; dieses / ist das Bestimmbare zu einem Bestimmten, letzteres bin ich als Individuum, ich erkenne mich als Individuum, diese Erkenntnis ist oben ein Fortgehen vom Bestimmbaren zum Bestimmten, ich bin - ein durch sich selbst herausgegriffener Teil aus dem Vernunftwesen; jetzt wird stillegestanden beim Hervorgehen der Individualität aus der Vernunft, welche so hervorgeht, dass ich mich finde als etwas nicht könnend oder dürfend,* was doch eigentlich für mich sein muss.
Der bestimmte Akt ist hierbei ist Aufforderung zur freien Tätigkeit, diese kommt her und wird so beurteilt von einem anderen vernünftigen Wesen meinesgleichen. Das Selbstbewusstsein hebt also an von einem Herausgrei- fen aus einer Masse vernünftiger Wesen überhaupt.
*) [= 'beschränkt']
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 176f.
Nota. - Es ist zweierlei, ob ich die Vernunft - 'real' - als ein sich selber bestimmendes Subjekt zur Voraussetzung mache, oder - 'ideal' - die Vernünftigkeit als ein Bestimmbares an wirklich daseienden Individuen. Letzteres wäre eine problematische Bestimmung, die sich im Weiteren zu bewähren hätte; ersteres wäre ein dogmatischer Glaubenssatz. Ist die Undeutlichkeit an dieser Stelle bloße Fahrlässigkeit (womöglich des Protokollanten Krause), oder gehört sie in das Kapitel "seine schwankende Vernunft"?
Nachtrag. Als menschliche Wesen, die bestimmt sind, sich als Ich zu setzen, sind sie vorausgesetzt als an-sich wollend. Die Vernünftigkeit kommt hinzu, sofern und indem sich alle gegenseitig (im selben Raum) als wollend anerkennen: Es ist die Selbstbegrenzung der Freiheit. Sie muss erst noch geschehen, damit wirkliche Vernünftig- keit=handelnde Vernunft zustande kommt. Vernunft ist Terminus ad quem.
JE
Sonntag, 29. März 2015
Alles Bewusstsein ist sinnlich.
Alles Bewusstsein ist sinnlich, es drückt aus den Akt der Intelligenz, der idealen Tätigkeit, und steht unter Gesetzen, wenigstens unterm Gesetz des Übergehens von der Bestimmbarkeit zur Bestimmtheit. Durch diese Affektion wird alles, was gedacht wird, notwendig sinnlich.
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 145
Nota. - Alles wirkliche Bewusstsein ist Bewusstsein von Wirklichem. Es ist die Vermittlung zwischen Ding ("an sich") und Wollen ("an sich").
JE
Samstag, 28. März 2015
Bewusstsein ist Vermittlung.
Allenthalben mussten wir, um das Bewusstsein zu erklären, etwas Erstes, Ursprüngliches annehmen, oben beim Gefühl, hier beim Wollen. Alles Denken, alles Vorstellen liegt zwischen dem ursprünglichen Wollen und der Beschränktheit durchs Gefühl in der Mitte. Der idealen Tätigkeit können wir zusehen, weil wir nur ideale Tätigkeit anschauen und auffassen können.
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 143
Nota. - Das Wollen wird als unerklärlicher Anfang, als nicht herleitbarer Erklärungsgrund, als wahres Wesen des Menschlichen vorausgesetzt - als An sich, 'wenn man von etwas An-sich reden könnte'. Faktisch voraus- gesetzt und ergo irgendwelcher Ableitung nicht bedürftig ist die Sinnlichkeit. Faktisch ebenso gegeben ist unser Denken und Vorstellen. Nur diese ist unserer Einsicht zugänglich. Es steht nicht im Gegensatz zur Sinnlich- keit, nicht im Gegensatz zum Wollen-an-sich, sondern vermittelt zwischen den beiden. Nur als Vermittlung ist das Bewusstsein begreiflich; die beiden Pole Ding und Wollen sind es nicht. Bewusstsein ist nicht an sich, Ding und Wollen wären es - denn anders können wir unser Bewusstsein nicht erklären: Sie sind noumena, und die wären, wenn sie wären, 'an sich'; denn da sie bloß gedacht werden, sind sie außerhalb von Raum und Zeit.
JE
Freitag, 27. März 2015
Wille, Beschränkung, Reflexion.
Der reine Wille ist unmittelbares Objekt alles Bewusstseins und aller Reflexion. Aber die Reflexion ist diskursiv: Er, der reine Wille, müsste sonach etwas Mannigfaltiges sein. Dies ist er ursprünglich nicht, sondern wird es erst durch Beziehung auf seine Beschränktheit, wodurch er Wille wird, in der Reflexion selbst, die absolut frei ist, und deren Freiheit und ganzes Wesen eben in dieser Beziehung besteht - teils, dass sie überhaupt geschehe, teils, dass sie so oder anders geschehe. Diese Reflexion erscheint als ein Wollen, sofern sie selbst bloß gedacht, und als ein Tun, inwiefern sie angeschaut wird. Und sie ist der Grund alles empirischen Bewusstseins.
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 166
Donnerstag, 26. März 2015
Real und ideal, breve.
Real ist, was Gegenstand der Reflexion wurde, ideal ist das Reflektieren selbst. Reflektiert wird auf eine Tätigkeit der Einbildungskraft, sofern sie auf eine Begrenzung stößt (Handlung wird). Ihre erste Begrenzung findet die Einbildungskraft im Fühlen, in der Reflexion darauf entsteht Anschauung. Da die Einbildungskraft selber unend- lich ist, wird sie immer nur 'zu einem Teil', 'in einer Hinsicht' begrenzt, zum andern Teil, in anderer Hinsicht geht sie über die Begrenzung hinaus.
Zum Reflektieren muss sie sich aus Freiheit selbst bestimmen, und auch darüber geht sie 'zu einem Teil' hinaus. Es kann daher unendlich reflektiert werden, und was auf einer gegebenen Reflexions- und Abstraktionsstufe (Standpunkt oder Gesichtspunkt bei Fichte) ideale Tätigkeit war, wird auf der nächsthöheren Stufe zur realen: nämlich selber Gegenstand der Reflexion.
Mittwoch, 25. März 2015
Das Intelligible ist nichts an sich, sondern nur ein Vorauszusetzendes.
Das Reale bedeutet nur das Objektive, das Ideale nur das Subjektive im Bewusstsein. Beides wird nun besonders betrachtet als bestimmbar, und dieses Denken gibt das bloß Intelligible. Das Intelligible ist sonach nichts an sich, sondern nur etwas für die Möglichkeit unserer Erklärung nach den Denkgesetzen Vorauszu- setzendes. So behandelt es auch Kant, und jede andere Ansicht wäre transzendent.
Gleich vom Anfange haben wir die ideale und die reale Tätigkeit geschieden. Das ursprüngliche Reale ist der reine Wille, das Bestimmbare in unseren Bestimmungen; das Ideale ist das Reflexionsvermögen, gebunden an verschiedene Gesetze, unter anderem auch an das Gesetz, dass nur Sukzessives aufgefasst und nur diskursiv gedacht werden kann.
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 167
Nota. - Real sind nicht die Gegenstände selbst, sondern der Wille, an dem sie sich kundtun; und dass er sich an ihnen bestimmt. (Nie vergessen: Hier wird nicht die Welt erklärt, sondern das Bewusstsein, das wir von ihr haben.)
JE
Dienstag, 24. März 2015
Philosophie ist keine Sammlung von Sätzen...
Philosophie ist nicht eine Sammlung von Sätzen, die so gelernt werden, sondern sie ist eine gewisse Ansicht der Dinge, eine besondere Denkart, die man in sich hervorbringen muss.
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 11
Montag, 23. März 2015
Das notwendige Verfahren beim Vorstellen.
Ich bin mir bewusst von der Vorstellung von irgendetwas, das weiß ich, nun behaupte ich: Dieser Vorstellung entspricht ein Ding, das da sein würde, wenn ich auch die Vorstellung davon nicht haben würde.
Nun ist der Zusammenhang zwischen der Vorstellung und dem Ding auch nur eine Vorstellung auch in mir [sic]. Nun aber behaupten wir nicht nur, dass wir Vorstellungen haben, sondern dass diesen Vorstellungen auch Dinge außer ihnen entsprächen; sonach wäre die Vorstellung von dem Zusammenhange beider eine notwen- dige Vorstel-/lung. Also es geht schon hier eine Verknüpfung vor; ob wir und schon der Handlung des Ver- knüpfens nicht bewusst sind, so ist es doch notwendig.
Dies Verfahren, dass ich nämlich von der Vorstellung zu der Vorstellung übergehe, dass Dinge wirklich exi- stierend da sind, ist notwendig; alle Vernunftwesen verfahren so.
Also es gibt in den denkenden Wesen notwendige Vorstellungen. Die Philosophie fragt nun nach den Gründen dieser notwendigen Vorstellungen der Intelligenz.
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 11f.
Nota. - Wem Fichte noch neu ist, der wird überrascht sein: Es geht der Transzendentalphilosophie nicht darum, die Falschheit der Vorstellung von einer wirklichen Welt zu demonstrieren, sondern, im Gegenteil, ihre Not- wendigkeit. (Außerdem handelt sie nicht von förmlichen Konstruktionen aus Begriffen, sondern von dem, was sie erfassen: der materialen Entwicklung von Vorstellungen.)
JE
Sonntag, 22. März 2015
Auch der Idealist glaubt, wenn er nicht auf dem Katheder steht, an die Wirklichkeit der Welt.
Damit begnügen wir uns aber nicht, sondern machen schnell einen Unterschied zwischen der Vorstellung und dem Objekt, und sagen, außer der Vorstellung liege noch etwas Wirkliches. Sobald wir auf den Unterscheid der Vorstellung und des Objekts aufmerksam werden, sagen wir, es ist beides da. Alle vernünftigen Wesen (selbst der Idealist und Egoist, wenn er nicht auf dem Katheder steht) behaupten immerfort, dass eine wirklich Welt da sei.
Wer sich zum Nach-/denken über diese Erscheinung der menschlichen Seele erhoben hat, muss sich verwun- dern, da hier eine scheinbare Inkonsequenz ist. Man werfe sich also die Frage auf: Wie kommen wir dazu an- zunehmen, dass noch außer unserer Vorstellung wirkliche Dinge daseien?
Viele Menschen werfen sich die Frage nicht auf, entweder, weil sie diesen Unterschied nicht bemerken, oder weil sie zu gedankenlos sind. Wer aber diese Frage aufwirft, der erhebt sich zum Philosophieren; diese Frage zu beantworten, ist der Zweck des Philosophierens, und die Wissenschaft, die sie beantwortet, ist die Philosophie.
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 3f.
Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.
Samstag, 21. März 2015
Wovon die Transzendentalphilosophie ausgeht, oder: Die Immanenz des Bewusstseins.
Es wird vorausgesetzt, dass man das Dasein der Dinge außer sich annehme; bei dieser Annahme beruft man sich auf seinen inneren Zustand. Man geht bei dieser Überzeugung in sich zurück in das Innere, man ist sich bewusst eines Zustands, aus welchem man auf das Dasein der Dinge außer sich schließt.
Nun ist man aber, sofern man bewusst ist, ein vorstellendes Wesen, man kann also nur sagen, man sei sich der Vorstellung von Dingen außer uns bewusst, und weiter wird eigentlich auch nichts behauptet, wenn man sagt, es gebe Gegenstände außer uns. Kein Mensch kann unmittelbar behaupten, dass er Sinne habe, sondern nur, dass er notgedrungen sei, so etwas anzunehmen.
Das Bewusstsein geht nur auf das, was in ihm vorkommt, aber dies sind Vorstellungen.
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 3
Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.
Freitag, 20. März 2015
Wie kommt das Ich dazu, aus sich heraus zu gehen?
Unsere Frage könnte auch so heißen: Wie kommt das Ich dazu, aus sich heraus zu gehen? Diese Frage macht eigentlich den Charakter der Wissenschaftslehre aus. Die Lehre von der produktiven Einbildungskraft wird hier eine neue Klarheit und Festigkeit erlangen. Die gesamte Sinnenwelt wird durch sie hervorgebracht, nach ihren bestimmten Gesetzen.
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 78
Nota. - Wobei nie zu vergessen ist: Die Gesetze der Einbildungskraft waren nicht gegeben, bevor sie tätig wurde, sondern werden gesetzt, indem sie einbildet.
JE
Donnerstag, 19. März 2015
Die Aufgabe der Transzendentalphilosophie.
Es ist, wie Kant sagt, ein Vorteil für die Wissenschaft, wenn man das, was sie zu leisten hat, auf eine Formel bringt. Kant bringt das, was die Philosophie zu leisten hat, auf die Aufgabe zurück: "Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?" Dozent [=Fichte] drückt die Frage so aus: Wie kommen wir dazu anzunehmen, dass den Vorstellungen in uns etwas außer uns entspreche? Beide Fragen heißen dasselbe. [S. 11]
Kant hat die Frage: Wie kommen wir dazu, gewissen Vorstellungen objektive Gültigkeit beizumessen, nicht be- antwortet. Die Wissenschaftslehre leistet dies. Wir schreiben einer Vorstellung objektive Gültigkeit zu, wenn wir behaupten, dass unabhängig von der Vorstellung noch ein Ding da sei, das der Vorstellung entspreche; beide sind so verschieden: Die Vorstellung habe ich hervorgebracht, das Ding aber nicht. Nun behauptet die Wissenschaftslehre: Mit Vorstellungen, welche notwendig in uns sein sollen, verhält es sich so, dass wir anneh- men müssen, dass ihnen etwas Äußeres entspreche; und dies zeigt sie genetisch. [S. 9]
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 11; 9.
Mittwoch, 18. März 2015
Erfahrung ist die Analyse einer ursprünglichen Synthese.
Es gibt zwei Haupthandlungen des Ich; die eine, wodurch es sich selbst setzt und alles, was dazu erforderlich ist, also die ganze Welt. Die zweite ist ein abermaliges Setzen desjenigen, was durch jene erste Handlung schon gesetzt ist. Es gibt also ein / ursprüngliches Setzen des Ich und der Welt und ein Setzen des schon Gesetzten, das erste macht das Bewusstsein erst möglich und kann daher darin nicht vorkommen; das zweite aber ist das Bewusstsein selbst. Das zweite setzt sonach das erste voraus. Im zweiten wird sonach etwas gefunden, das ohne das Ich vorhanden, worauf das Ich reflektiert. Das erste, dessen Resultat das Ding ist; dadurch zeigt sich, was eigentlich Produkt des Ich ist.
Es wäre sonach zu unterscheiden eine ursprüngliche Thesis oder, da in ihr ein Mannigfaltiges gesetzt wird, eine ursprüngliche Synthesis, von der Analysis, wenn nämlich wieder auf das reflektiert wird, was in der ursprünglichen Synthesis liegt. Die gesamte Erfahrung ist nun bloße Analysis dieser ursprünglichen Synthesis. Das ursprüng- liche Setzen kann nicht im wirklichen Bewusstsein vorkommen, weil es erst die Bedingung der Möglichkeit alles Bewusstseins ist.
Dies ist der kurze Inbegriff, das Wesen und der Charakter der Wissenschaftslehre.
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Wissenschaftslehre nova methodo, I. Einleitung, Hamburg 1982, S. 9f.
Dienstag, 17. März 2015
Ästhetische Philosophie.
Auf dem gemeinen Standpunkt erscheint die Welt als gegeben, auf dem transzendentalen [als] gemacht, (alles in mir), auf dem ästhetischen erscheint sie als gegeben, so als ob wir sie gemacht hätten und wie wir selbst sie machen würden. (vid. Sittenlehre von den Pflichten des ästhetischen Künstlers.)
Der Wille erscheint dem ästhetischen Sinne frei; dem gemeinen als Produkt des Zwangs, z. B. jede Begrenzung im Raume ist Resultat der Begrenztheit des Dinges durch andere, denn sie werden dabei gepresst; jede Ausbreitung ist auch Resultat des inneren Aufstrebens der Körper, allenthalben Fülle, Freiheit, ersterer ist unästhetisch, letzter ist der ästhetische.
Das ist der ästhetische Sinn, aber die Wissenschaft ist etwas anderes. Die Wissenschaft ist der Form nach transzendental, sie ist Philosophie, sie beschreibt die ästhetische Ansicht, in solcher Ästhetik muss nicht ein schöner Geist sein; die ästhetische Philosophie ist ein Hauptteil der Wissenschaft und ist der ganzen anderen Philosophie, die man die reelle nennen könnte, entgegengesetzt.
Der Einteilungsgrund ist der Gesichtspunkt, welcher entgegengesetzt ist. In materialer Ansicht liegt sie zwischen theoretischer und praktischer Philosophie in der Mitte. Sie fällt nicht mit der Ethik zusammen, denn unserer Pflichten sollen wir uns bewusst werden; allein die ästhetische Ansicht ist natürlich und instinktmäßig und dependiert nicht von der Freiheit.
Dieser Gesichtspunkt ist es, durch den man sich zum transzendentalen erhebt; so folgt, dass der Philosoph ästhetischen Sinn, d. h. Geist haben müsse; er ist deshalb nicht notwendig ein Dichter, Schönschreiber, Schönredner; aber derselbe Geist, durch dessen Ausbildung man ästhetisch wird, derselbe Geist muss den Philosophen beleben, und ohne diesen Geist wird man es in der Philosophie nie zu etwas bringen; sonst plagt man sich mit dem Buchstaben und dringt nicht in des Innere.
Finitum d. 14. März 1799
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 244
Nota. - Dieser zweite Vortrag der Wissenschaftslehre "nach neuer Methode" endete Mitte März 1799. Da war der Atheismusstreit längst in vollem Gange. Noch zu diesem fortgeschrittenen Zeitpunkt schließt Fichte die Darstellung seiner prima philosophia so, dass kein Zweifel bleibt: als nächstes ist die Ausarbeitung der "ästheti- schen Philosophie" als ein "Hauptteil" seines spekulativen Geschäfts vorgesehen. Die von Giorgia Cecchinato* dazu zusammengetragenen philologischen Daten lassen wenig Raum für andere Deutungen.
Wenige Tage nach Abschluss der Vorlesung reichten Fichte und Niethammer ihre jeweiligen "Verantwortungs- schriften" gegen den Atheismus-Vorwurf beim weimarischen Ministerium ein. Dass die Angelegenheit bis zur Entfernung Fichtes von seinem Lehrstuhl führen würde, war noch nicht abzusehen. Die aber hat dann alle andern Pläne umgestoßen.
Ob Fichte bei der Ausarbeitung seiner Ästhetik zu dem Schluss gelangt wäre, die Ethik der Ästhetik als einen Spezialfall unterzuordnen, wie Herbart es später tat, steht in den Sternen. Es hätte seine Logik, und Herbart dürfte seine eigenen Ergebnisse aus der Auseinandersetzung mit Fichtes Sittenlehre gewonnen haben.
Der entscheidende Punkt ist: Auch die Ethik gebietet, wie die Ästhetik, immer "einzeln und unmittelbar", und diesen Punkt hat nicht nur Herbart, sondern vor ihm schon Novalis aus Fichtes Vortrag herausgehört. Allgemeine Gesetze sind der Moralität sowohl für Herbart als für Novalis direkt entgegengesetzt. Was anders als diese kann Fichte aber gemeint haben, wenn er oben sagt: "unserer Pflichten sollen wir uns bewusst werden"? Denn dass ich mir im gegebenen Moment dessen, was ich unmittelbar soll, 'bewusst' werde und mir 'einen Begriff davon' mache, liegt ja auf der Hand, aber das ist beim Ästhetischen auch nicht anders.
Und ob sich Fichte zu dem Entschluss hätte durchringen mögen, das Wahre-Absolute-Unbedingte als eine ästhetische Idee aufzufassen, ist noch weniger gewiss. Logisch gibt es eigentlich keinen andern Weg, aber das Herz kennt manchmal Gründe, von denen der Verstand nichts ahnt.
JE
*) Giorgia Cecchinato, Fichte und das Problem einer Ästhetik, Würzburg 2009
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Montag, 16. März 2015
Gibt es eine Vermittlung zwischen transzendentalem Standpunkt und Normalbewusstsein?
Diese... Philosophie steht auf dem transzendentalen Gesichtspunkte und sieht von diesem auf den gemeinen Gesichtspunkt herab. Das ist das Wesen der transzendentalen Philosophie, dass sie nicht will Denkart im Leben werden, sondern zusieht einem Ich, welches im Leben sein Denksystem zu Stande bringt, sie schafft selber nichts. Dieses untersuchte Ich steht auf dem gemeinen Gesichtspunkte. ...
Dabei entsteht der deutliche Widerspruch: Der ideale Philosoph betrachtet den realen Menschen? Er ist doch aber auch ein Mensch. Der Mensch kann sich auf den transzendentalen Gesichtspunkt erheben nicht als Mensch, sondern als transzendentaler spekulativer Wissenschaftler. Es entsteht für die Philosophie selbst ein Anstoß,* in ihr ihre eigene Möglichkeit zu erklären. Was gibts für einen Übergang zwischen beiden Gesichtspunkten; - Frage über die Möglichkeit der Philosophie.
Beide Gesichtspunkte sind sich ja gerade Entgegengesetztes. Gibts nicht ein Mittleres, so ist nach unseren eignen Grundsätzen kein Mittel, zu ihm [sic] über-/zugehen. Es ist faktisch erwiesen, dass es so ein Mittleres gibt zwischen der transzendentalen und gemeinen Ansicht: dieser Mittelpunkt ist die Ästhetik.
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 243f.
*) Das Ich, als Intelligenz, stand mit dem Nicht-Ich, dem der postulirte Anstoss zuzuschreiben ist, im Causal-Verhältnisse; es war bewirktes vom Nicht-Ich, als seiner Ursache. Grundlage..., SW I, S. 250
Nota. - Er fragt, mit andern Worten, ob der gemeine Standpunkt nicht einen Anstoß erhält, um sich zum Philosophieren zu entschließen, und antwortet: das Ästhetische; denn ohne das wäre der gemeine Standpunkt gut bei sich aufgehoben. Das ästhetische Phänomen wirft die Fragen auf, die die Philosophie beantworten will. Die Philosophie gibt aber keine Antworten, sie erweist sich als reine Kritik, nämlich am gemeinen Stand- punkt. Lassen Sie mich raten: Die Antworten auf die Fragen der Ästhetik sind - die Fragen der Ästhetik selber, anders gesagt, das Staunen - habe ich Recht?
Na ja, man könnte das auch gründlicher darlegen.
JE
Sonntag, 15. März 2015
Die Einbildungskraft, das Eine, der Stoff.
Wir beziehen das Ideale auf das Reale. Bestimmtheit, Fixiertsein ist der Hauptcharakter desselben, des Realen sowohl als Denken als des Subjekts, das durch dies reale Denken entsteht; das Denken steht bei dem Realen gleichsam still und ist nicht, wie bei dem Idealen, in Bewegung.
Was ist nun in diesem Realen das Gedachte? Die produzierenden Einbildungskraft, und da hier Bestimmtheit eintritt, die Einbildungskraft im Produzieren. Es ist ein Produkt der Einbildungskraft, also was ists?
Die Einbildungskraft synthetisiert ein unendlich teilbares Mannigfaltiges, nun ist dieses hier etwas Stehendes; daher, weils ein Objekt der realen Tätigkeit ist. Demnach wird nicht auf das Mannigfaltige gesehen, sondern aufs Eine, es ist das Erblickte ein Teilbares bis ins Unendliche, es ist teilbarer Stoff, Materie im Raume; eben diese Vereinigung des Mannigfaltigen, wo auf die Vereinigung bloß gesehen wird, macht es zur Materie; darauf wird sich nun das Ideale beziehen, und das Reale dadurch affiziert werden...
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 221
Samstag, 14. März 2015
Der Anfang ist eine Aufgabe, die nie bewältigt sein wird.
...nämlich bei aller Bemühung können wir die Untersuchung über die Hauptsynthesis niemals erschöpfen; wir können sonach nimmermehr das Bestimmte und Bestimmende als eins anschauen, weil beides in der Synthesis auseinander liegt. Beides als eins zu denken ist bloße Aufgabe. Dieses Bestimmen und Bestimmtsein ist in der Hauptsynthesis eins, diese aber können wir nicht fassen.
Die Philosophie hebt notwendig an mit einem Unbegreiflichen, mit der ursprünglichen Synthesis der Einbil- dungskraft, ebenso mit einem Unanschaubaren, mit der ursprünglichen Synthesis des Denkens, dieser Akt ist nicht zu denken noch anzuschauen. Es lässt sich auch also noch bloß als Aufgabe aufstellen, alles Übrige ist erreichbar, da es in der Erfahrung vollzogen wird.
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 217
Nota. - Mit andern Worten, die ganze Wissenschaftslehre ist gar keine Lösung, sondern ein Problem.
JE
Freitag, 13. März 2015
Der Anfang ist unbegreiflich.
Dies sich-Bestimmen ist der absolute Anfang alles Lebens und Bewusstseins, eben deshalb ists unbegreiflich, weil unser Bewusstsein immer etwas voraussetzt.
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 208
Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.
Donnerstag, 12. März 2015
Einbildungskraft ist das Vermögen, das Bestimmbare aufzufassen.
... hier* vereinigt die Einbildungskraft absolut das unendlich Teilbare der Handlungsmöglichkeiten; sie ist das Vermögen, das Bestimmbare zu fassen, welches das Denken nicht kann, da es bloß diskursiv ist;** aber es gibt ein besonderes Vermögen, das Entgegengesetzte zu fassen, die Einbildungskraft.
Die Vermögen des Ich müssen selbst deduzieret werden, so muss hier bewiesen werden, dass Einbildungskraft ist; dies ist hier deduziert, weil kein Bewusstsein und kein Ich [ist], wenn nicht ein Übergehen vom Bestimmba- ren aus ist, wenn nicht ein Bestimmbares für uns ist; dass es eine Einbildungskraft gebe, ist dadurch notwendig.
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 202
*) [in der Vorstellung vom Raum.]
**) =weil es nur mit Bestimmtem operiert.
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