Donnerstag, 19. Juli 2018

Wahrheit ist Gewissheit.

polyneuropathie

Zuförderst über den Doppelsinn des Wortes Gefühl, der auch Herrn E. an meiner Meinung irrig gemacht. Das Gefühl ist entweder sinnlich und das des Bittern, Roten, Harten, Kalten usw., oder intellektuell. Herr E. und mit ihm alle Philosophen seiner Schule scheint die letztere Art gänzlich zu ignorieren, nicht zu beachten, daß auch eine solche Gattung angenommen werden müsse, um das Bewußtsein begreiflich zu machen.

Ich habe es hier mit dem ersten nicht zu tun, sondern mit dem letztern. Es ist das unmittelbare Gefühl der Ge- wißheit und Notwendigkeit eines Denkens. – Wahrheit ist Gewißheit: und woher glauben die Philosophen der entgegengesetzten Schule zu wissen, was gewiß ist? Etwa durch die theoretische Einsicht, daß ihr Denken mit den logischen Gesetzen übereinstimmt? Aber woher wissen sie denn, daß sie sich in diesem Urteile über die Übereinstimmung nicht wieder irren? Etwa wieder durch theoretische Einsicht? Aber wie denn hier? – Kurz, da werden sie ins Unendliche getrieben, und ein Wissen ist schlechthin unmöglich. – Überdies, ist denn Gewißheit ein Objektives, oder ist es ein subjektiver Zustand? Und wie kann ich einen solchen wahrnehmen, außer durch das Gefühl?
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Rückerinnerungen, Antworten, Fragen [S. 146]



Nota. - Das ist der wundeste Punkt der gesamten Wissenschaftslehrre. Sie will prüfen, mit welchem Recht wir annehmen, dass gewissen unserer Vorstellungen Wirklichkeit außerhalb unseres Bewusstseins zukommt. Es läuft hinaus auf die Frage: Was schafft Gewissheit? Die ganze Erzählung vom an-sich seienden Wollen, vom Ich, das sich selbst setzt, vom Nichtich und der Aufspaltunge der Einbildungskraft in ein reelles und ein ideelles Quan- tum und alles andere - führt uns zum allerletzten Schluss zu einem Gefühl der Gewissheit; so wie unterwegs in der Erzählung immer wieder der Denkzwang auftrat, der im ideellen Bereich denselben Dienst leisten soll wie das sinnliche Gefühl "des Bittern, Roten, Harten, Kalten usw." im reellen Bereich.

Es wird wohl so sein, dass wir alle, die wir uns für vernünftig halten, beim Denken immer wieder mal das Gefühl haben, "dass es anders nicht geht". Oder dass, wenn wir es 'anders' versuchen wollten, wir nur wissentlich eine Wahnvorstellung hervorbringen könnten, deren Falschheit wir vorab eingesehen haben. Aber davon könnten wir einander nur erzählen, mitteilen könnten wir das Gefühl nicht; geschweige denn, es überprüfen. Mit anderen Wor- ten, für unser Wissen ist nichts gewonnen. 

Hätte er sich also den ganzen deduktiven, rekonstruktiven Aufwand nicht sparen können und sagen: Was wahr ist, ist evident? 

Das wäre gerade nicht das Ergebnis der Wissenschaftslehre. Als wahr müssen wir annehmen, was auf dem Wege der Vernunft, den uns die Wissenschaftslehre beschreibt, zustande gekommen ist. Sie ist der Prüf stein. Was uns das sinnliche Gefühl verbürgt, kann in Raum und Zeit gemessen werden. Doch nicht, was uns der Denkzwang ok- troyiert. Das lässt sich nur im vernünftigen Verkehr selbst ermitteln, actu, nicht vorab theoretisch. Vernünftig sein heißt, den Denkzwang fühlen. Das Gefühl des Denkzwangs ist die Stimme der Vernunft.

Ist er nicht vielmehr das Ende der Rationalität? Aber nein. Das Mysterium des Denkzwangs wird auseinanderge- legt und einsehbar gemacht durch die - mythische, das ist wahr - Erzählung der Wissenschaftslehre. Die in ihr aufgezeigten Denkzwänge sind eingeschlossen in die beiden Termini der Erzählung. A quo: Bevor ein Ich sich setzen konnte, muss es sich - irgendwie irgendwo - vorgeschwebt haben. Zwar kann man dabei nichts denken, aber ohne es kann man schon gar nichts denken. Ad quem: Ein Ende ist nicht absehbar. Wessen Ende nicht absehbar ist, das ist unendlich. Das Unendliche ist nicht das Vollkommene. Es ist vielmehr der Weg der Vervollkomm- nung. Das ist die einzige Weise, auf die wir uns das Absolute denken können.
JE




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