Dienstag, 4. Dezember 2018

Ich urteile, also bin ich.

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Irgend eine Thatsache des empirischen Bewusstseyns wird aufgestellt; und es wird eine empirische Bestimmung nach der anderen von ihr abgesondert, so lange bis dasjenige, was sich schlechthin selbst nicht wegdenken und wovon sich weiter nichts absondern lässt, rein zurückbleibt.

1) Den Satz: A ist A (soviel als A = A, denn das ist die Bedeutung der logischen Copula) giebt Jeder zu; und zwar / ohne sich im geringsten darüber zu bedenken: man erkennt ihn für völlig gewiss und ausgemacht an.

Wenn aber Jemand einen Beweis desselben fordern sollte, so würde man sich auf einen solchen Beweis gar nicht einlassen, sondern behaupten, jener Satz sey schlechthin, d. i. ohne allen weiteren Grund, gewiss: und indem man dieses, ohne Zweifel mit allgemeiner Beistimmung, thut, schreibt man sich das Vermögen zu, etwas schlechthin zu setzen.

2) Man setzt durch die Behauptung, dass obiger Satz an sich gewiss sey, nicht, dass A sey. Der Satz: A ist A ist gar nicht gleichgeltend dem: A ist, oder: es ist ein A. (Seyn, ohne Prädicat gesetzt, drückt etwas ganz anderes aus, als seyn mit einem Prädicate; worüber weiter unten.) Man nehme an, A bedeute einen in zwei gerade Linien eingeschlossenen Raum, so bleibt jener Satz immer richtig; obgleich der Satz: A ist, offenbar falsch wäre. Son- dern man setzt: wenn A sey, so sey A. Mithin ist davon, ob überhaupt A sey oder nicht, gar nicht die Frage. Es ist nicht die Frage vom Gehalte des Satzes, sondern bloss von seiner Form; nicht von dem, wovon man etwas weiss, sondern von dem, was man weiss, von irgend einem Gegenstande, welcher es auch seyn möge.

Mithin wird durch die Behauptung, dass der obige Satz schlechthin gewiss sey, das festgesetzt, dass zwischen jenem Wenn und diesem So ein nothwendiger Zusammenhang sey; und der nothwendige Zusammenhang zwischen beiden ist es, der schlechthin, und ohne allen Grund gesetzt wird. Ich nenne diesen nothwendigen Zusammen- hang vorläufig = X.

3) In Rücksicht auf A selbst aber, ob es sey oder nicht, ist dadurch noch nichts gesetzt. Es entsteht also die Frage: unter welcher Bedingung ist denn A?

a. X wenigstens ist im Ich, und durch das Ich gesetzt – denn das Ich ist es, welches im obigen Satze urtheilt, und zwar nach X als einem Gesetze urtheilt; welches mithin dem Ich gegeben, und da es schlechthin und ohne allen weiteren / Grund aufgestellt wird, dem Ich durch das Ich selbst gegeben seyn muss.

b. Ob, und wie A überhaupt gesetzt sey, wissen wir nicht; aber da X einen Zusammenhang zwischen einem un- bekannten Setzen des A, und einem unter der Bedingung jenes Setzens absoluten Setzen desselben A bezeich- nen soll, so ist, wenigstens insofern jener Zusammenhang gesetzt wird, A in dem Ich, und durch das Ich gesetzt, so wie X; X ist nur in Beziehung auf ein A möglich; nun ist X im Ich wirklich gesetzt: mithin muss auch A im Ich gesetzt sein, insofern X darauf bezogen wird.

c. X bezieht sich auf dasjenige A, welches im obigen Satze die logische Stelle des Subjects einnimmt, ebenso wie auf dasjenige, welches für das des Prädicats steht; denn beide werden durch X vereinigt. Beide also sind, insofern sie gesetzt sind, im Ich gesetzt; und das im Prädicate wird, unter der Bedingung, dass das im Subjecte gesetzt sey, schlechthin gesetzt; und der obige Satz lässt demnach sich auch so ausdrücken: Wenn A im Ich ge- setzt ist, so ist es gesetzt; oder – so ist es.

4) Es wird demnach durch das Ich vermittelst X gesetzt: A sey für das urtheilende Ich schlechthin und lediglich kraft seines Gesetztseyns im Ich überhaupt; das heisst: es wird gesetzt, dass im Ich – es sey nun insbesondere setzend, oder urtheilend, oder was es auch sey – etwas sey, das sich stets gleich, stets Ein und ebendasselbe seyn; und das schlechthin gesetzte X lässt sich auch so ausdrücken: Ich = Ich; Ich bin Ich.

5) Durch diese Operation sind wir schon unvermerkt zu dem Satze: Ich bin (zwar nicht als Ausdruck einer Thathandlung, aber doch einer Thatsache) angekommen. Denn X ist schlechthin gesetzt; das ist Thatsache des empirischen Bewusstseyns. Nun ist X gleich dem Satze: Ich bin Ich; mithin ist auch dieser schlechthin gesetzt.

Aber der Satz: Ich bin Ich, hat eine ganz andere Bedeutung als der Satz: A ist A. – Nemlich der letztere hat nur unter einer gewissen Bedingung einen Gehalt. Wenn A ge/setzt ist, so ist es freilich als A, mit dem Prädicate A gesetzt. Es ist aber durch jenen Satz noch gar nicht ausgemacht, ob es überhaupt gesetzt, mithin, ob es mit ir- gend einem Prädicate gesetzt sey. Der Satz: Ich bin Ich, aber gilt unbedingt und schlechthin, denn er ist gleich dem Satze X; er gilt nicht nur der Form, er gilt auch seinem Gehalte nach. In ihm ist das Ich, nicht unter Be- dingung, sondern schlechthin, mit dem Prädicate der Gleichheit mit sich selbst gesetzt; es ist also gesetzt; und der Satz lässt sich auch ausdrücken: Ich bin.
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Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, SW Bd. I, S. 92-95 



Nota. - Die elementare Tätigkeit des Ich ist urteilen; was immer urteilt, soll Ich heißen. Urteilen ist die Behaup- tung einer logischen Folge: wenn dies, so das. Das Wenn muss immer - 'peiristisch' - vorausgesetzt werden; sein Ob ist problematisch, nicht aber das Dann. Es ist der Satz der Identität: die Bestimmung. Es ist die Urform des Urteils. Wer immer einen bestimmenden, d. h. einen irgendetwas als dieses identifizierenden Satz spricht, setzt sich als (ein) Ich. Er nimmt für sich in Anspruch eine ursprüngliche prädikative Qualität.

So hatte Kant* das transzendentale Subjekt gefunden: bei Rousseau im Abschnitt über den Savoyischen Vikar im Émile; die Philosophen mögen ihm mit guten Gründen die Freiheit des Willens bestreiten; doch wenn er urteile, sei kein anderer dabei, das wisse er mit Sicheheit.

*) Ernst Cassirer, "Kant und Rousseau"; in: Rousseau, Kant, Goethe, Hamburg 1991 (PhB) 
JE 


 

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