Sonntag, 23. August 2015
Das Individuum ist die Grenze der Vernunft.
Der Zweck wird uns in der Aufforderung gegeben, also die individuelle Vernunft lässt sich aus sich selbst nicht erklären - [dies] ist das wichtigste Resultat, es besteht nur im Ganzen durchs Ganze und als Teil des Ganzen. Denn wie soll sonst Kenntnis eines Vernunftwesens außer ihm zu erklären sein, wenn in ihm kein Mangel ist?
Dies ist so dargetan worden: Wir haben uns Mühe gegeben, den Zweckbegriff zu erklären, da kamen wir in einen Zirkel; nun aber ist sie beantwortet, denn im Fortlaufe der Vernunft ists damit nicht schwer, es ist nur darum zu tun, den ersten Zweckbegriff dar-/zulegen; den ersten aber bekommen wir, doch wird uns der Zweck nicht als Bestimmtes, sondern überhaupt der Form nach gegeben, etwas, woraus wir wählen können. (Vide in der Rechtslehre Folgerungen daraus.)
Kein Individuum kann sich aus sich selbst erklären. Wenn man also auf ein erstes Individuum kommt, worauf man kommen muss, so muss man auch ein noch höheres unbegreifliches Wesen annehmen.
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 177f.
Nota. - Wieso aber sollte man das Individuum in und aus der Transzendentalphilosophie erklären wollen? Die Transzendentalphilosophie beschäftigt sich mit dem, was an den Individuen Ichheit ist. Außer Ichheit sind sie auch noch Leib, Stoffwechsel, Leidenschaft und vieles mehr. Reicht das nicht aus, um aus abstrakten Vernunft- wesen lebendige Individuen zu machen?
Es ist wahr, in einem großen Quantum - um im Bilde zu bleiben - von Leib, Stoffwechsel und gar Leidenschaft hat Vernunft nichts zu suchen, es sei denn als ihre Grenze. Und eben darum sind die wirklichen Menschen in der 'Reihe vernünftiger Wesen' unaustauschbare Individuen. Denn historisch ist es ja andersrum: Leib, Stoff- wechsel und Leidenschaften verfolgen vor jeder Vernunft in der sinnlichen Welt ihre Zwecke ohne allen Be- griff. Vernunft und die Erfordernis, ihre Zwecke in Begriffe zu fassen, ergeben sich erst daraus, dass sich in der sinnlichen Welt ihre Wege kreuzen und schon immer gekreuzt haben. Die individuelle Vernunft entsteht dar- aus, dass das sinnliche Individuum von der Reihe der andern freien Wesen zur Vernunft aufgefordert wird; aufgefordert wird, seine Freiheit gegen seine Sinnlichkeit geltend zu machen. Die Individualität ist in der Welt das, was am wenigsten der Erklärung bedarf.
Dass er in der Wissenschaftslehre ein "noch höheres unbegreifliches Wesen" unterbringen will, ist im Übrigen aus dem längst ausgebrochenen Atheismusstreit zu erklären; biographisch, aber nicht logisch.
Nota II. - Obiges ist der Kommentar von einem, der noch nicht weit genug in die Wissenschaftslehre eingedrungen war. Auch das Individuum ist in der Wissenschaftslehre nicht das, was in Biologie oder Psychologie so heißt. Es ist vielmehr das bestimmte einzelne vernünftige Wesen in seinem Verhältnis – und Gegensatz – zu den anderen vernünftigen Wesen. Was nicht zu seiner Vernünftigkeit gehört – Sinnlichkeit, Leidenschaft, Irrtum – , kommt noch nicht in Betracht.
Individuum im Sinne der Wissenschaftslehre ist derjenige, der auf dem Weg der Bestimmung seines Wollens in der Reihe all der andern vernünftigen Individuen schon ein gewisses Stück zurückgelegt hat.
Und genau besehen ist vernünftig überhaupt erst seine Wechselwirkung mit jenen.
JE im Feb. 2016
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