Montag, 23. Mai 2016

Ästhetik ist der Übergang vom gemeinen zum transzendentalen Gesichtspunkt.



4) Nach dieser Einteilung bleibt daher eine Wissenschaft übrig, welche jedem bekannt ist, die man auch immer zur Philosophie gerechnet hat und mit Recht. (Ich meine nicht die Logik, welche für jede Wissenschaft gilt und für jedes Handwerk, und Instrument des Vernunftverfahrens ist). Die Ästhetik, wo liegt diese? Die soeben beschriebene und eingeteilte in ihrer Grundlage aufgestellte Philosophie steht auf dem transzendentalen Standpunkte und sieht von diesem auf den gemeinen Gesichtspunkt herab. Das ist das Wesen der transzendentalen Philosophie, dass sie nicht will Denkart im Leben werden, sondern zusieht einem Ich, welches im Leben sein Denksystem zu Stande bringt, sie schafft selbst nichts. Dieses untersuchte Ich steht auf dem gemeinen Standpunkt.

In der Theorie hat die Philosophie alle Menschen als besondere zum Objekt, und sie ist geschlossen, so wie der Mensch in concreto dasteht, ihre Ansicht gilt für jedes Individuum. In der Ethik und Rechtslehre wird der Mensch im realen Gesichtspunkte gedacht. Dabei entsteht der deutliche Widerspruch: Der ideale Philosoph betrachtet den realen Menschen? Er ist doch aber auch ein Mensch. Der Mensch kann sich auf den transzendentalen Gesichtspunkt erheben nicht als Mensch, sondern als transzendentaler spekulativer Wisschenschaftler. Es entseht in der Philosophie ein Anstoß, in ihr ihre eigene Möglichkeit zu erklären. 

Was gibts für einen Übergang zwischen beiden Gesichtspunkten. - Frage über die Möglichkeit der Philosophie. Beide Gesichtspunkte sind sich ja gerade entgegengesetzt . Gibts nicht ein Mittleres, so ist nach unseren eigenen Grundsätzen kein Mittel, zu ihm über-//244//zugehen.

Es ist faktisch erwiesen, dass es so ein Mittleres gibt zwischen der transzendentalen und gemeinen Ansicht; dieser Mittelpunkt ist die Ästhetik. Auf dem gemeinen Gesichtspunkte erscheint die Welt als gegeben, auf dem transzendentalen als gemacht ('Alles in mir'); auf dem ästhetischen erscheint sie als gegeben, so als ob wir sie gemacht hätten und wie wir selbst es machen würden (vide Sittenlehre von den Pflichten des ästhetischen Künstlers).
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Wissenschaftslehre nova methodo, S. 243f.  


Nota. -   Das ästhetische Wahrnehmen - der ästhetische Sinn oder auch Trieb, wie F. andernorts wiederholt sagt - gehört zum wirklichen sinnlichen Leben, es kommt ungeniert und ungebrochen vom 'gemeinen Gesichtspunkt' her. Soll es den Übergang von dort zum transzendentalen Gesichtspunkt realiter möglich machen, dann ist es dessen reale Bedingung; ihr Grund.

Das ergab schon die Wissenschaftslehre selbst: Sie beruht auf einem Grund, der außerhalb ihrer liegt und von ihr nicht analytisch aufgefunden, sondern spekulativ erschlossen wurde: Wollen, das einzige An-sich, von dem die Wissenschaftslehre allenfalls reden könnte, und das als 'Trieb' und 'Streben' im System wieder vorkommt als reales Substrat des transzendentalen Ich; 'Einbildungskraft' als der unendliche Fortschritt vom Bestimmbaren zum Bestimmt(er)en.


"Ganz anders verhält es sich mit dem Triebe, den wir eben den ästhetischen nannten. Er zielt auf Vorstellungen, und auf bestimmte Vorstellungen lediglich um ihrer Bestimmung und um ihrer Bestimmung als bloßer Vorstellung willen. Auf dem Gebiete dieses Triebes ist die Vorstellung ihr eigner Zweck."*

Da hat Fichte dem Ästhetischen eine gewaltige Bürde aufgepackt, und geahnt hat er es. Leider hat ihn der Atheismusstreit davon abgebracht, seine Bahn weiter zu verfolgen.

*) Über Geist und Buchstab in der Philosophie. in: SW VII, S. 279

JE

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