Montag, 30. Mai 2016

Es gibt kein Wissen ohne Voraussetzung.



Der praktische Zweck nun ist, diese Zweifel zu lösen; den Menschen in Übereinstimmung mit sich selbst zu bringen, dass er aus Überzeugung und aus Gründen seinem Bewusstsein glaubt, wie er es vorher aus Vernunftinstinkt tat. (Der ganze //7// Zweck der Bildung des Menschen ist, ihn durch Arbeit zu dem zu machen, was er vorher ohne Arbeit war.) Dieser Zweck ist in der Kantischen Philsosphie völlig erreicht, sie ist bewiesen, und jeder, der sie versteht, muss sie für wahr halten. 

Aber der Mensch ist auch nicht bestimmt, sich damit begnügen zu lassen. Er ist bestimmt zu vollständiger und systematischer Kenntnis. Es ist nicht genug, dass unsere Zweifel glöst und dass wir zur Ruhe verwiesen sind, wir wollen auch Wissenschaft. Es ist ein Bedürfnis der Menschen nach Wissenschaft, und die Wissenschaftslehre macht sich anheischig, dies Bedürfnis zu befriedigen. 

Also die Resultate der Wissenschaftslehre sind mit denen der Kantischen Philososphie dieselben, nur die Art, sie zu begründen, ist in jener eine ganz andere. Die Gesetze des menschlichen Denkens sind bei Kant nicht streng wissenschaftlich abgeleitet, dies soll aber in der Wissenschaftslehre geschehen. In dieser werden abgeleitet die Gesetze des endlichen Vernunftwesens überhaupt; im Kantischen System werden bloß aufgestellt die Gesetze des Menschen, weil es bloß auf Erfahrung beruht, diese werden in der Wissenschaftslehre bewiesen. 

Ich beweise jemandem etwas heißt, ich bringe ihn dazu, dass er annehme, dass er irgendeinen Satz schon zugegeben habe, indem er die Wahrheit irgendeines anderen vorher zugegeben hatte. Jeder Beweis setzt also bei dem, dem er bewiesen werden soll, schon etwas Bewiesenes voraus, und zwei, die über nichts einig sind, können einander auch nichts beweisen. 

Da nun die Wissenschaftslehre beweisen will die Gesetze, nach denen das endliche Vernunftwesen bei Hervorbringung seiner Erkenntnis verfährt: so muss sie dies an irgend etwas anknüpfen, und da sie unser [Wissen?] begründen will, an etwas, das jedermann zugibt. Gibt es so etwas nicht, so ist systematische Philosophie unmöglich.
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S.6f.




Nota. - Das ist das Verfahren der Wissenschaftslehre: Statt freihändig Begriffe zu definieren und daraus ein System zu bauen, sucht sie in den wirkliche Vorstellungen der 'endlichen' Vernunftwesen die ihnen zu Grunde liegenden anschaulichen Voraussetzungen auf, und erst, wenn sie an den Punkt gerät, hinter den es nicht hinausgeht, kehrt sie ihren Gang um und setzt, was sie zuvor analytisch auseinandergelgt hatte, synthetisch wieder zusammen; daran, ob auf diesem Weg die wirkliche Vorstellungswelt der 'endlichen Vernunftwesen' hinreichend rekonstuiert werden kann, entscheidet sich ihre Richtigkeit.

Nota II. - 'Der Mensch ist bestimmt zu vollständiger und systematischer Kenntnis': woher weiß er das? Nach seiner Lehre ist der Mensch, sofern er Vernunftwesen ist, nur bestimmt als das, wozu er sich selbst bestimmt. Wenn er sagt 'So ist es', kann es sich entweder um die Feststellung eines empirisch Vorgefundenen handeln, oder um ein Postulat: 'So soll es sein.' - Tatsächlich handelt es sich hier um beides; es ist die historisch vorgefundene Tatsache des autonomen bürgerlichen Subjekt; und der Entschluss des theoretischen Philosophen, dies empirisch Gegebene als seinen praktischen Zweck anzusehen. Die Wissenschaftslehre ist die Anthropologie des bürgerlichen Zeitalters.
JE






Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE 

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