Freitag, 2. September 2016

Die gesamte Sinnlichkeit auf dieses eine Gefühl konzentrieren.


v. Hildebrand, Trinkender

Kant beantwortet die Frage, wie das Mannigfaltige im Bewusstsein vereinigt werde, vortrefflich; aber nicht, wie das Mannigfaltige der Gefühle, da doch die Beantwortung des ersten sich auf die Beantwortung des letzten gründet. Er bezieht (vide Kritik der Urteilskraftalle Gefühle auf Lust und Unlust, nun aber muss es zwischen der Beziehung der Gefühle auf Lust und Unlust ein Mittleres geben, wo-//70//durch diese Beziehung erst möglich werde. Um zu empfinden, ob A oder B mehr Lust gewähre, muss ich sie erst beide beisammen haben, um sie zu vergleichen. Wie bekomme ich nun beide beisammen?

Wenn man z. B. zwei Weine kostet, nicht um zu sehen, welcher von beiden besser schmeckt, sondern nur, um die Verschiedenheit des Gefühls zu wissen, so scheint eine solche Vergleichung unmöglich, denn wenn man den einen schmeckt, so schmeckt man den anderen nicht. Es ist immer nur ein Geschmack, und zum Verglei-chen gehört doch zweierlei? 

Und jedermann weiß doch, dass er diese Vergleichung anstellen kann.

Man muss hier auf das Verfahren merken. Bei dem Kosten ist Tätigkeit. Man fasst seinen ganzen Sinn auf den Gegenstand, den man kostet, zusammen und konzentriert ihn auf denselben. Man bezieht dieses besondere Gefühl auf die gesamte Sinnlichkeit. So wie dies beim Kosten der ersten geschieht, so geschieht es auch beim zweiten, dadurch werden beide mit etwas Gemeinschaftlichem zusammengehalten, nämlich mit der ganzen Sensibilität, welche in beiden Momenten dieselbe bleibt.
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 69f.



Nota. - Beim Kosten ist Tätigkeit, nämlich reale. Der eine Wein schmeckt so, der andere so. Schon da tritt idea-le Tätigkeit ein, denn um den einen so, den andern so schmecken zu können, muss ich darauf achten: Indem ich darauf merke, wie er schmeckt, muss ich alle andern Sensationen, die ich stets auch noch fühle, beiseite schie-ben und unbeachtet lassen. 

Wie jeder Akt der Reflexion ist er im selben Maße Abstraktion. Das Vergleichen ist nun lediglich ein weiterer Abstraktionsschritt, indem der eine und der andere Geschmack auf einen idealen Gesamtzustand bezogen werden.
JE

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