Donnerstag, 4. Oktober 2018

Nur was zufällig ist, braucht einen Grund.

 Michelangelo, Sixtinische Kapelle

Wir haben jetzt die Frage zu beantworten: Wie kommt man zu obiger Frage? Und was tut man, indem man diese Frage nur streift? Die Frage nach dem Grunde gehört selbst zu den notwendigen Vorstellungen.

Man sucht nur den Grund von zufälligen Dingen. Die Philosophie überhaupt sucht den Grund von notwen- digen Vorstellungen; diese müssen also als zufällig gedacht werden. 

Es wäre Unsinn, nach dem Grund eines Dinges zu fragen, das ich nicht für zufällig hielte. Ich halte etwas für zufällig heißt: Ich könnte denken, dass es gar nicht oder dass es ganz anders wäre. So sind die Vorstellungen vom ganzen Weltsystem; wir denken uns die Erde füglich als anders sein könnend, und uns selbst können wir auf einen andren Planeten versetzt denken. Ob wir ohne solche Vorstellungen sein könnten, belehrt uns die Philosophie; aber dass wir das Weltsystem für zufällig halten, ist gewiss, denn nur darum können wir nach einem Grund fragen.

Dieses Faktum enthält die ganze Erfahrung; aus dieser geht man heraus, mithin auch aus der gesamten Erfah- rung heraus, und dies ist Philosophie und nichts anderes.
_________________________________________________________
Wissenschaftslehre nova methodo, II. Einleitung, Hamburg 1982, S. 13 


 
Nota I. - Der gesunde Menschenverstand sieht das ganz anders. Was zufällig geschieht, scheint ihm nicht hin- reichend begründet, und was hinreichend begründet ist, kann eigentlich gar nicht anders sein. - Doch der ge- sunde Menschenverstand ist ein Metaphysiker, für ihn sind logische Gründe und reelle Ursachen dasselbe. Aber notwendig ist nur das Logische, alles Faktische ist nur mehr oder minder wahrscheinlich, und also mehr oder minder kontingent. Für das metaphysische Denken sind indessen beides 'Kräfte' aus einem 'Stoff', denen ein und dieselbe Substanz 'zu Grunde liegt'. Und die stellen sie sich unweigerlich als einen Schöpfer vor - der selber aber 'ganz anders' hätte schöpfen können!

Die kritische Philosophie macht es möglich und recht eigentlich notwendig, sich das bloß Seiende, das lediglich ist, weil es ist, als einen Zufall vorzustellen. Erst dann kann und muss man immer fragen: warum? Und keine Antwort kann je die letzte sein, man muss immer weiter fragen: warum nun aber dies? Einen Anfang wird man nie finden, man müsste ihn schon postulieren. Doch auch nur die Kritische Philosophie erlaubt, einen Akt der Frei- heit zu denken. 

10. 6. 16


Nota II. - Nein: Der gesunde Menschenverstand glaubt gar nicht an den Zufall. Verstand, nämlich kein Aber- glaube, ist er eben wegen seiner Gewissheit des Gesetzes von Ursache und Wirkung. Wenn eine Usache nicht offenkundig ist, nimmt er eine an, die so vielfältig vermittelt ist, dass sie ihn - den gesunden Menschverstand - übersteigt. Chaostheorie versteht er vielleicht nicht, aber er glaubt sie gern. Die Vorstellung, dass etwas einfach nur so ist, wie es eben ist, und keinen hinreichenden Grund dafür hat, ist ihm gar nicht möglich - so wenig wie dem Aberglauben: Auch der nimmt immer eine Ursache an, und gern auch eine okkulte.

Genauer gesagt, einen Verursacher. Den hat auch im Vernunftzeitalter noch das Kirchendogma verbürgt, im Deismus der Aufklärer wurde er lediglich aus der Welt heraus vor deren Anfang versetzt, als Uhrmacher und Anstoßgeber.

Fichte schrieb schon in der Epoche der Naturgesetze. Auch hinter denen steht die Annahme von einem, der gesetzt hat. Für die hinreichende Ursache ist a priori gesorgt; auch dann noch, wenn ich mir das Naturgesetz ohne gesetzgebenden Schöpfer als unerschaffene, von sich aus wirkende Kraft vorstelle (die dann freilich selber ohne Grund wäre). Zufällig ist nun das, was nicht offenkundig unters Naturgesetz fällt; das bedarf einer Begrün- dung. So etwa die Welt, die schon war, bevor ein Gesetz in ihr wirken konnte.

*


Fichte geht es hier um die notwendigen Vorstellungen und den ganzen Komplex der Denknotwendigkeit. Es gibt ein Denken, das uns als notwendig vorkommt. Um das erklären zu können, müssen wir es im Gegenteil als zufällig denken: so, als ob es auch anders sein könnte. Da sagt er mehr, als er sich ausdrücklich zu formulieren wagt: Es muss selber aus Freiheit notwendig geworden sein; aus Freiheit notwendig. Das ist der einzige Grund, der selber keinen hat und daher in unserer Welt von Ursachen und Wirkungen als Zufall erscheint. Aber auch nur, weil er in unserer Welt gar nicht stattgefunden hat, sondern in der Vorstellung, und in unserer Welt erst wirklich wirkt, wenn er sich zu einem Ich bestimmt und Zwecke gesetzt hat.
JE


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen