Dienstag, 31. Juli 2018

So produziert die Vernunft sich selbst.

Albrecht E. Arnold, pixelio.de

Durch diese äußerste Hülflosigkeit ist der Mensch an sich selbst und zuvörderst die Gattung an die Gattung gewiesen. Wie der Baum durch das Abwerfen der Frucht seine Gattung erhält, so erhält der Mensch, durch Pflege und Erziehung der Hülflosgeborenen, sich selbst, als Gattung. So producirt die Vernunft sich selbst, und so nur ist der Fortschritt derselben zur Vervollkommnung möglich. So werden die Glieder aneinander gehängt, und jedes künftige erhält den Geisteserwerb aller vorhergegangenen. 
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Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre [1796] SW. Bd. III, S. 82


Nota. - Vernunft ist die Kompensation der erworbenen Mangelhaftigkeit.
 
26. 11. 13

Nota II. - An eine der Vernünftigkeit der vernünftigen Wesen vorangehende Venunft ist hier nich nicht gedacht. So wie der einzelne Mensch, ist auch die Gattung an sich selbst verwiesen. Vernunft produziert sich selbst - "so werden die Glieder aneinander gehängt, und jedes künftige erhält den Geisteserwerb aller vorhergegangenen." Soll also Vernunft - als ruhend vorgestellt, was doch wirklich agile Vernünftigkeit ist - etwas sein, so muss es als ein solches im Verlauf des Aneinanderhängens neu Entstandenes sein. Die Menge tut's? Das kann nicht sein. "Wo nichts ist, kann nichts werden", wird er später sagen

An dieser Stelle kann man erst sagen: Wenn's nicht aus der Addition Gleichartiger erwächst, dann kann es nur aus dem wechselseitigen Einwirken aller auf einander stammen. Es ist die neue qualitas des prozedierenden Über- einstimmens selbst. 

JE
 




 

Montag, 30. Juli 2018

Zweck der Vernunft ist Übereinstimmung.

Foto: picture alliance / dpa / Stockfoto

Religion zwar ist Angelegenheit aller Menschen, und jeder redet da mit Recht hinein und streitet: dies ist Bestimmung des Menschen und Anlage, um allmählich Übereinstimmung, den großen Zweck der Vernunft, hervorzubringen. 

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Rückerinnerungen, Antworten, Fragen [S. 136]


Nota. - Mit andern Worten - Vernunft ist immer da an ihrem Platz, wo Übereinstimmung angebracht ist. Alles andere liegt außerhalb ihres Zwecks.

Wie aber verfolgt sie diesen Zweck? Indem sich alle, die guten Willens sind, zusammensetzen und aufeinander türmen, worüber sie einer Meinung sind, und ausklammern, worüber es Streit geben könnte? Da würde es auf die Dauer nichts als Streit geben, und solchen von der übelsten Sorte, weil ständig die diplomatischen Fronten gewechselt würden.

Übereinstimmung ist gar nicht eine Frage von Meinungen, sondern eine Sache von Denkzwängen. Denn am Anfang stand nicht das eine oder andere Ich, das sich entscheiden konnte, mitzumachen oder nicht. Am Anfang stand die Reihe vernünftiger Wesen, und Vernunft ist nicht etwas, was ich mir auszudenken hätte, sondern das, wozu sie mich auffordern - weil sie es schon haben. 

Dass Übereinstimmung tatsächlich schon stattgefunden hat, ist in der Wissenschaftslehre systematisch vorausge- setzt. Sie stimmen schon überein hinsichtlich der realen Wissenschaften - und wo noch Streit herrscht, hat er den Zweck, die Gegensätze zu überwinden; und es herrscht Übereinstimmung hinsichtlich der allgemeinen Schlussre- geln. Denn das aktuelle Verhältnis, das die Glieder der Reihe vernünftiger Wesen zu einander haben, ist das der Kritik - und sei es auch nur stellvertretend in Gestalt ihrer Gelehrten: immerhin ein Anfang..

Das Ich ist aufgefordert, sich daran zu beteiligen. Das ist der Zweck von Bildung. Der große Zweck der Vernunft ist fortschreitende Übereinstimmung in der Bestimmung der Welt.
JE

Sonntag, 29. Juli 2018

Wahres Wissen ist zirkulär.

lichtkunst.73, pixelio.de
 
Der Faden der Betrachtung wird an dem hier durchgängig als Regulativ herrschenden Grundsatze: nichts kommt dem Ich zu, als das, was es in sich setzt, fortgeführt. Wir legen das oben abgeleitete Factum zum Grunde, und sehen, wie das Ich dasselbe in sich setzen möge. Dieses Setzen ist gleichfalls ein Factum, und muss durch das Ich gleichfalls in sich gesetzt werden; und so beständig fort, bis wir bei dem höchsten theoretischen Factum an- kommen; bei demjenigen, durch welches das Ich (mit Bewusstseyn) sich setzt, als bestimmt durch das Nicht-Ich. So endet die theoretische Wissenschaftslehre mit ihrem Grundsatze, geht in sich selbst zurück, und wird demnach durch sich selbst vollkommen beschlossen.
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Grundriss des Eigenthümlichen der Wissenschaftslehre, in Rücksicht auf das theoretische Vermögen, SW I, S. 333.


 

§ 1. Erster, schlechthin unbedingter Grundsatz.

Wir haben den absolut-ersten, schlechthin unbedingten Grundsatz alles menschlichen Wissens aufzusuchen.

Beweisen oder bestimmen lässt er sich nicht, wenn er absolut-erster Grundsatz seyn soll. Er soll diejenige Thathand- lung ausdrücken, welche unter den empirischen Bestimmungen unseres Bewusstseyns nicht vorkommt, noch vor- kommen kann, sondern vielmehr allem Bewusstseyn zum Grunde liegt, und allein es möglich macht. Bei Darstel- lung dieser Thathandlung ist weniger zu befürchten, dass man sich in etwa dabei dasjenige nicht denken werde, was man sich zu denken hat – dafür ist durch die Natur unseres Geistes schon gesorgt – als dass man sich dabei denken werde, was man nicht zu denken hat. Dies macht eine Reflexion über dasjenige, was man etwa zunächst dafür halten könnte, und eine Abstraction von allem, was nicht wirklich dazu gehört, nothwendig. 

Selbst vermittelst dieser abstrahirenden Reflexion nicht – kann Thatsache des Bewusstseyns werden, was an sich keine / ist; aber es wird durch sie erkannt, dass man jene Thathandlung, als Grundlage alles Bewusstseyns, noth- wendig denken müsse. ... 

Die Gesetze, nach denen man jene Thathandlung sich als Grundlage des menschlichen Wissens schlechterdings denken muss, oder – welches das gleiche ist – die Regeln, nach welchen jene Reflexion angestellt wird, sind noch nicht als gültig erwiesen, sondern sie werden stillschweigend, als bekannt und ausgemacht, vorausgesetzt. Erst tiefer unten werden sie von dem Grundsatze, dessen Aufstellung bloss unter Bedingung ihrer Richtigkeit richtig ist, abgeleitet. Dies ist ein Cirkel; aber es ist ein unvermeidlicher Cirkel.
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Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, SW Bd. I, S. 91f.

 

Nota. - Wenn es aber zirkulär ist, dann ist es kein Wissen. Wenn am oberen Ende genausoviel steht wie am unte- ren, dann ist nichts hinzukommen - und das Wissen folglich leer.


Dies, wenn die Wissenschaftslehre eine logische Herleitung aus gegebenen Begriffen wäre - so wie die metaphy- sischen Systeme vor Kant. Die Wissenschaftslehre ist dagegen ein retroaktives Postulat. Sie ist keine Konstrukti- on der Wirklichkeit aus Prämissen, sondern eine eine experimentelle Unterschung des Gangs unserer Vorstel- lungstätigkeit. Es wird der Untersuchung eine problematische Behauptung zu Grunde gelegt - und nur, wenn nach Abschluss der Untersuchung nicht mehr und nicht weniger und schon gar nichts anderes steht als am An- fang; nur, wenn nichts hinzugekommen und der Zirkel lückenlos geschlossen ist, hat sich die problematische Eingangsbehauptung bewährt.

Was immer es tut: Das Ich 'setzt sich', indem es sich ein/em Nichtich entgegensetzt - und zwar immer fort. Alle Tätigkeit des Ich ist Fortschreiten in der Bestimmung von Unbestimmtem. Von nicht anderem kann es wissen. Das ist - zusammenfassend - leicht gesagt. Doch um es einzusehen, war die hirnbrechende Ochsentour der Wis- senschaftslehre unumgänglich. Der sachliche Gehalt der realen Wissenschaften wird davon um keinen Deut er- weitert. Aber sie können nun ihres Wissens gewiss sein - wenn anders Wissen überhaupt möglich sein soll.

*

Die Frage Was ist Wissen? - oder: Was ist wahr? - formuliert Fichte um in: Wie kommen wir zu der Annahme, dass einigen unserer Vorstellungen Dinge außerhalb unserer Vorstellungen entsprechen? Das ist der prosaische Kern, der in der pompösen Frage nach der Warheit drinsteckt. 
JE




 

Freitag, 27. Juli 2018

Öffentlichkeit transzendental.


Was Fichte die 'Reihe vernünftiger Wesen' nennt, heißt in der außerphilosophischen Realität Öffentlichkeit. Ohne sie keine Vernunft.



Donnerstag, 26. Juli 2018

Metaphysik oder Wahrnehmung?

Stebchen, pixelio.de

Ich habe bisher im Gegenteile geglaubt, daß Schwärmerei, Wahnsinn, Raserei darin bestehe, daß man seine Er- dichtungen für wirkliche Gegenstände hält, und der gesunde Verstand darin, daß man nichts für wirklich hält, das sich nicht auf eine innere oder äußere Wahrnehmung gründet. ...

Diesem System ist das unsrige darin gerade entgegengesetzt, daß es die Möglichkeit, ein für das Leben und die Wissenschaft gültiges Objekt durch das bloße Denken hervorzubringen, gänzlich ableugnet und nichts für reell gelten läßt, das sich nicht auf innere oder äußere Wahrnehmung gründet. In dieser Rücksicht, inwiefern die Meta- physik das System reeller, durch das bloße Denken hervorgebrachter Erkenntnisse sein soll, leugnet z. B. Kant, und ich mit ihm, die Möglichkeit der Metaphysik gänzlich. Er rühmt sich, dieselbe mit der Wurzel ausgerottet zu haben, und es wird, da noch kein verständiges und verständliches Wort vorgebracht worden, um dieselbe zu ret- ten, dabei ohne Zweifel auf ewige Zeiten sein Bewenden haben.
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Rückerinnerungen, Antworten, Fragen [S. 113f.]


Nota. - Vom Ich, das sich setzt als sich selbst vorausgesetzt, werden in der Wissenschaftslehre abenteuerliche Dinge berichtet. Nun kann man dem Ich, das zugegebenermaßen ein reines Gedankending ist, nicht bei seinem Tun zusehen; nämlich nicht bei einem Andern. Man muss es an sich selbst beobachten: im Vollzug. 

"In diesem Collegio wird experimentiert, das heißt, die Vernunft wird gezwungen, auf gewisse planmäßige Fra- gen zu // antworten, die Resultate unserer Experimente fassen wir dann in Begriffe zum Behuf der Wissenschaft und des Gedächtnisses." WL nova methodo, S. 34f. 

So unkritisch Wolff und Baumgarten mit ihren Begriffen hantierten, so apodiktisch beschreibt Kant in den Kri- tiken das Verfahren der Vernunft: So ist es, Punkt. Fichte treibt die Vernunftkritik auf die Spitze und kehrt von dort aus Schritt für Schritt zur Vernunft zurück. Er fordert seine Hörer auf, einen jeden Schritt mitzutun und stets darauf zu achten, wie sie dabei vorgehen. So war keiner vor ihm verfahren.

Zu bemerken ist noch die Bestimmung der Begriffe: Sie sind tatsächlich Resultat der Gedankenexperimente; gefasst werden sie lediglich "zum Behufe der Wissenschaft und des Gedächtnisses." Zum Quell neuer Erkennt- nisse werden sie selber nicht.
 JE


Mittwoch, 25. Juli 2018

Fichtes Vernunft-Gott.

Günter Havlena, pixelio.de

Sein Begriff ist blos eine Idee zum Behuf gewisser Grundsatze.
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Kant, Opus postumum, 1. Konvolut, S. 048 


Nota I. - Platz für den Glauben hat er schaffen wollen, aber dann holt ihn das kritische Gewissen doch immer wieder ein.

21. 9. 15

Nota II. - Allein als Bürgen für eine sittliche Weltordnung hat Fichte Gott gelten lassen wollen - und sich prompt den Ruf eines Atheisten eingefangen, weil er ihn als Schöpfer aus der Welt verbannt hatte. Und zwar nicht so, dass man an Gott glauben müsse, um die Grundsätze der Sittlichkeit glauben zu können, sondern andersrum: Wer selber in sich Sittlichkeit hervorgebracht habe, glaube ipso facto an Gott, weil anders die letztendliche Herrschaft der Sittlichkeit nicht verbürgt sei.

Sein Argument ist verschroben. Wer sich einen Zweck setze, müsse ihn der Logik wegen für erreichbar und folglich zu irgendeinem künftigen Zeitraum als erreicht annehmen.

Was die formale Logik hier verloren habe, ist nicht zu erkennen. Sittlichkeit handelt von Zwecken, und die werden aus Freiheit gewählt und haben mit notwendigen Schlüssen nicht zu tun. Die materiale Logik aber widerspricht ihm geradezu: Der sittliche Zweck besteht im Rechttun selber und nicht in der Ausführung dieses oder jenes Werks. Das hat der Lutheraner Fichte natürlich gewusst, und dass er es an dieser Stelle übergeht, kann nur mit gedanklichen Skrupeln erklärt werden. 

Das Ich, hat er uns erklärt, findet sich vor als wollend. Es schaut sich an als bestimmt, nämlich zum Wollen. Wollen heißt bestimmen wollen; er schaut sich also an als bestimmen sollend. Er soll frei sein - das ist dasselbe. Handeln gemäß selbst bestimmter Zwecke heißt Vernunft. Auf die Sittlichkeit des Bestimmens kommt es hier an, denn die allein verantwortet der Bestimmende. Ein Bestimmtes gibt es stets nur vorüber gehend: denn sittlich ist immer nur das Fortschreiten im Bestimmen. Da gibt es schlechthin kein letztes Ende.

An welcher Stelle das vernünftige sittliche Ich einen Bürgen für seinen Erfolg nötig hätte, ist unerfindlich, und wer einen solchen braucht, hat noch viel an sich zu arbeiten. Als moralisch-heuristische Fiktion ist Gott so überflüssig, wie er als Schöpfer undenkbar ist. 
JE



Dienstag, 24. Juli 2018

Wo war das Ich, bevor es sich gesetzt hat?

Unter seiner ursprünglichen Überschrift hat der folgende Eintrag nicht die Aufmeksamkeit gefunden, die ich ihm wünsche. Unter neuem Titel versuch ich's nochmal.

 


Was es auch sein möge, das den letzten Grund einer Vorstellung enthält, so ist wenigstens so viel klar, dass es nicht selbst eine Vorstellung sei und dass eine Umwandlung damit vorgehen müsste, ehe es fähig ist, in unserm Bewusstsein als Stoff einer Vorstellung angetroffen zu werden. / Das Vermögen dieser Umwandlung ist die Ein- bildungskraft. – Sie ist Bildnerin. Ich rede nicht von ihr, insofern sie ehemals gehabte Vorstellungen wieder her- vorruft, verbindet, ordnet, sondern indem sie überhaupt etwas erst zu einer Vorstellung macht. – Sie ist insofern Schöpferin des eigenen Bewusstseins. Ihrer, in dieser Funk//tion , ist man sich nicht bewusst, gerade weil vor dieser Funktion vorher gar kein Bewusstsein ist. Die schaffende Einbildungskraft. Sie ist Geist. 

Resultat. Dieses Bild müssen wir selbst bilden. 

Nun muss im Ich das legen, was sie bildet. 

(Wo ist der eigentliche philosophische Beweis dafür, dass die Einbildungskraft etwas im Ich zum Gegenstande haben müsse? - - Sie ist tätig - aber nicht auf das Ich, sondern auf ein Nicht-Ich. - Das Ich ist schon, wenigstens virtualiter, hevorgebracht, denn sowie sie ihr Produkt vorhält, hält sie es dem Ich vor. Das Ich wird aber nur durch Unterscheidung von einem Nicht-Ich hervorgebracht. Mithin muss ein solches zu Unterscheidendes vorhanden sein: und zwar im Ich vorhanden sein. -

Wie und warum im Ich? - Es kann nur durch ein Vermögen des Ich vom Ich unterschieden werden; mithin muss es Gegenstand dieses unterscheidenden Vermögens sein - also schon in diesem Vermögen liegen. - Eine Qualität, eine prädikative, des Ich. 

Die (schaffende) Einbildungskraft selbst ist Vermögen des Ich. (Könnte sie nicht das einzige Grundvermögen des Ich sein? - Nein, darum nicht, weil das Produkt derselben vom Ich unterschieden wird: also auch nach ihrer Funktion noch ein Ich da ist.) Also es muss einen höhern Grund ihres Schaffens im Ich geben. - (Heißt im Grund das gleiche als: Es muss nocht etwas übrig bleiben, was Substrat des Ich ist, auf welches das Produkt der Einbil- dungskraft bezogen wird, und das ist offenbar das Fühlende, und im Gefühl liegt mithin der Urstoff des [sic], was die Einbildungskraft bildet. __________________________________________________________________________________ 
Von den Pflichten der Gelehrten, Hamburg 1971 [Meiner], S. 126f.; desgl. in Gesamtausgabe II/3, S. 297f.  

 
Nota. - Geist ist toto genere Einbildungskraft. Aber das Ich ist nicht Geist (vom empirischen Individuum ganz zu schweigen). Wenn die Einbildungskraft nicht etwas vorfindet, das sie dem Ich ein/bilden kann, ist sie arbeitslos. Nicht das, was sie vorfindet, bildet die Einbildungskraft, sondern das, was sie vorgefunden hat: das, was es ist, was es bedeutet

Vorgefunden hat sie das krude Sinnesdatum: Gefühl. Das ist der Stoff, an dem die Einbildungskraft arbeitet. Er ist, auch ohne Einbildungskraft; er ist lediglich nicht dieses oder jenes.

*

So apodiktisch wie an dieser Stelle hat es Fichte meines Wissens nie wieder ausgesprochen. Natürlich: Denn es ist ein Ergebnis des Systems, das er doch erst noch auszuarbeiten hatte. Und wenn er es auch je fertig ausgearbeitet hätte: Eine "feste Terminologie" ist der Wissenschaftslehre fremd, weil sie nicht erlernt, sondern nur selbstgedacht werden kann. Für didaktische Zusammenfassungen dieser Art gäbe es nach Vollendung der Wissenschaftslehre keinerlei Berechtigung.
 
Die Stelle kommt in dem öffentliche Vortrag vor, den Fichte im April 1794 noch vor Aufnahme seiner regulären Vorlesungen in Jena gehalten und sogleich in den Druck gegeben hatte. Zweck dieser öffentlichen Vorträge war, die allgemeine Idee einer Wissenschaftslehre eine weiteren, nicht spezifisch akademischen Publikum nahezubrin- gen. Es ist eine populäre Einführung. Er musste den Ergebnissen seiner Untersuchung vorgreifen, wobei die eine oder andere gewagte Formulierung kaum zu vermeiden ist. Es ist ein didaktischer Vortrag, der den Gehalt der Wissenschaftslehre wie einen lernbaren positiven  Stoff vorträgt und also, nach Geist und Verfahren, durchaus in einem Widerspruch zu ihr steht.

Dass er die obige Stelle in dieser Form in den ausgearbeiteten Darstellungen der Wissenschaftslehre nicht wieder aufgegriffen hat, hat also philosophischen Sinn. Doch steht sie ganz am Anfang seiner Lehrtätigkeit, und die historisch-philologische Frage, wie Fichte sich die Wissenschaftslehre zu Anbeginn vorgestellt hat, rechtfertigt es, die Stelle dem wissenschaftlichen Vortrag voran zu stellen.

*

Die pointierte Voranstellung der Einbildungskraft ist das zunächst Bemerkenswerte. Fast möchte man schluss- folgern, die Einbildungskraft sei das eine und ganze Vermögen des Ich! Doch nein, die Hervorbringungen der Einbildungskraft müssen vom Ich doch immerhin so weit unterscheidbar sein, dass das Ich sich als eine "prädi- kative Qualität" über sie stellen und sie beurteilen kann. In den Ausführungen der Wissenschaftslehre wird sie uns als absolutes Wollen wieder begegnen. Der harte Kern des transzendentalen Ich ist seine Fähigkeit zum Urteil. Und sie ist nicht bloßer Geist! Als Urteilskraft = Wollen sind Geist und Sinnlichkeit noch ungeteilt.

Wir verstehen den tieferen Sinn von Fichtes Bezeichnung der Wissenschaftlehre als 'echten druchgeführten Kriti- zismus'.
JE






Nota - Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und ihre Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Ihre Nachricht auf diesem Blog.  
JE

Montag, 23. Juli 2018

Wie kommt das Ich dazu, aus sich heraus zu gehen?


Alle Ansicht ist subjektiv oder objektiv. Ich sehe mein Bestimmen, und zugleich muss ich auch ein Bestimmtes erblicken, nach dem Bestimmen wird das Bestimmte gedacht: ersteres ist das obenliegende Unmittelbare. Dieses Verhältnis heißt: Das Bestimmen oder der Zweckbegriff des Ich soll den Grund enthalten für die Beschaffenheit des Objekts. So kommt der Satz des Grundes ins Gemüt, er bedeutet eben dies Verhältnis, in welchem, wenn es bloß analysiert wird, ein Verschiedenes durcheinander hindurch gedacht [wird].

In dieser Kate-//196//gorie ist ein vermitteltes Denken wie in allem. Es kann zwar allerdings im diskursiven Den- ken herauf oder herunter gestiegen werden, aber das ursprüngliche Denken nimmt es so an, dass die Ursache die Wirkung so mache, wie sie ist, dass das Sein von der Ursachen ausgehe und weiter fortgehe. Dieses Denken geht aus von dem Denken meiner selbst, ich finde mich urprünglich als wollend, aus diesem folgt ein Wirken, an dieses in mir liegende Wirken knüpft sich notwendig an ein Bewirktes, da es kein Bestimmen ohne ein Be- stimmtes gibt. Das Verhältnis ist, dass das Bestimmte durch das Bestimmende hindurch gesehen wird. -

Man könnte sagen wollen: Der Grund ist das Bestimmende des Bestimmten, oder das in ihm Quantität Geben- de. Aber die Wissenschaftslehre weiß bloß von einem Denken, nicht von Bestimmenden und Bestimmten als Objekten. Warum dies geschehen muss, ist schon erörtert: da es Bedingung des Selbstbewusstseins ist, welches ein Subjektobjekt ist. Alles hier Aufgestellte ist ein Teil der Synthesis, durch das allein ein Ich für mich zu Stan- de kommen kann. 

So viel über die Form, wie das Denken eines Bestimmten ans Denken eines Bestimmenden sich anschließt; jetzt zur Materie: Der Unterschied des Zweckbegriffs und des reellen Objekts, dessen Ansicht durchs erstere vermit- telt wird, ist bekannt. Das erstere ist etwas durch bloßes Denken Hervorgebrachtes, letzteres soll das Entgegen- gesetzte sein. Dies hat wichtige Folgen. Zuvörderst, dieses Objektive und Reelle außer dem Denken, wo ist es denn außer dem Denken? Im Gefühl und fürs Gefühl, das reelle Denken soll Denken fürs Gefühl sein, da das ideale nur sich selbst denkt und darstellt. 

Hier sonach ist der Platz, wo das Denken aus sich selbst herausgeht, sich bezieht auf etwas außer ihm und ob- jektives Denken oder eigentlich Anschauung ist.
 
Man kann die gesamte Aufgabe der Wissenschaftslehre so ausdrücken: Wie kommt das Ich dazu, aus sich selbst herauszugehen? 

Dieses geschieht auch durch Vermittelung: die, dass das Ich nun zuvörderst herausgehe aus seinem ursprüng- lich Reinsten, aus dem Denken; daraus geht es fort zu dem Gefühl, //197// dies vermittelt das Herausgehen aus sich selbst, die Annahme einer Außenwelt. Der Platz nun, wo an das bloße Denken sich etwas anknüpft, was kein Denken ist, ist hier. Hier wird vom Denken fortgegangen zum Gefühl. Aber wenn wir dies noch näher ansehen, so scheint es doch nicht Stich halten zu wollen.

________________________________________________
 Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 195ff.


Nota. -  Dass das "ursprünglich Reinste" des Ich das Denken wäre, bedarf dringend der Erläuterung. Gemeint kann hier nur sein: das reine Wollen. So ist 'das Denken' an dieser Stelle nicht ein Denken überhaupt, sondern das Denken eines Zweck begriffes. Denn ob dieser oder jener Zweck gesetzt wird, ist im Denken noch schwebend, nur dass einer zu wählen ist, ist ihm vorgegeben. Nicht das Deliberieren, sondern die Zweckhaftigkeit ist das Wesen des Denkens: reines Wollen. 'Bloßes Denken' ist Deliberieren und Wollen, "das erste ist problematisches, das zweite kategorisches." Im übrigen kommt es auf die Terminologie nicht an. Sachlich ist immer die Rede von einem relativ Unbestimmten, das im sich-Bestimmen allezeit voranschreitet.

Wohlbemerkt: Es wird nicht behauptet, dass es dies muss. Denn wozu es bestimmt ist, hat es ja eben selber zu bestimmen. Warum kann dennoch die Wissenschaftslehre festen Schrittes vorwärtsgehen und ihrer Sache sicher sein? Sie beschreibt ja jenes Bewusstsein, das den Fortschritt zu Vernunft getan hat; ob das notwendig war, braucht sie nicht zu erörtern, sie setzt im Gegenteil voraus, dass es aus Freiheit geschah, sonst war all ihre Arbeit umsonst. Was man von ihr aber verlangen kann, ist: dass sie uns zeigt, wie es möglich war. Anders als die dogmatischen Metaphysiken, die ihr vorangingen und den Weltengang auf strenge Notwendigkeit bauten, darf die Transzendentalphilosophie sich darauf beschränken, die Bedingungen der Möglichkeit einzusehen. Möglichkeit ist ein Abkömmling der Freiheit, und nur auf Freiheit gründet die Transzendentalphilosophie ihre Wirklichkeiten.
JE





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JE

Wie kommt das Ich dazu, aus sich selbst herauszugehen?


Alle Ansicht ist subjektiv oder objektiv. Ich sehe mein Bestimmen, und zugleich muss ich auch ein Bestimmtes erblicken, nach dem Bestimmen wird das Bestimmte gedacht: ersteres ist das obenliegende Unmittelbare. Dieses Verhältnis heißt: Das Bestimmen oder der Zweckbegriff des Ich soll den Grund enthalten für die Beschaffenheit des Objekts. So kommt der Satz des Grundes ins Gemüt, er bedeutet eben dies Verhältnis, in welchem, wenn es bloß analysiert wird, ein Verschiedenes durcheinander hindurch gedacht [wird].

In dieser Kate-//196//gorie ist ein vermitteltes Denken wie in allem. Es kann zwar allerdings im diskursiven Den- ken herauf oder herunter gestiegen werden, aber das ursprüngliche Denken nimmt es so an, dass die Ursache die Wirkung so mache, wie sie ist, dass das Sein von der Ursachen ausgehe und weiter fortgehe. Dieses Denken geht aus von dem Denken meiner selbst, ich finde mich urprünglich als wollend, aus diesem folgt ein Wirken, an dieses in mir liegende Wirken knüpft sich notwendig an ein Bewirktes, da es kein Bestimmen ohne ein Be- stimmtes gibt. Das Verhältnis ist, dass das Bestimmte durch das Bestimmende hindurch gesehen wird. -

Man könnte sagen wollen: Der Grund ist das Bestimmende des Bestimmten, oder das in ihm Quantität Geben- de. Aber die Wissenschaftslehre weiß bloß von einem Denken, nicht von Bestimmenden und Bestimmten als Objekten. Warum dies geschehen muss, ist schon erörtert: da es Bedingung des Selbstbewusstseins ist, welches ein Subjektobjekt ist. Alles hier Aufgestellte ist ein Teil der Synthesis, durch das allein ein Ich für mich zu Stan- de kommen kann. 

So viel über die Form, wie das Denken eines Bestimmten ans Denken eines Bestimmenden sich anschließt; jetzt zur Materie: Der Unterschied des Zweckbegriffs und des reellen Objekts, dessen Ansicht durchs erstere vermit- telt wird, ist bekannt. Das erstere ist etwas durch bloßes Denken Hervorgebrachtes, letzteres soll das Entgegen- gesetzte sein. Dies hat wichtige Folgen. Zuvörderst, dieses Objektive und Reelle außer dem Denken, wo ist es denn außer dem Denken? Im Gefühl und fürs Gefühl, das reelle Denken soll Denken fürs Gefühl sein, da das ideale nur sich selbst denkt und darstellt. 

Hier sonach ist der Platz, wo das Denken aus sich selbst herausgeht, sich bezieht auf etwas außer ihm und ob- jektives Denken oder eigentlich Anschauung ist.
 
Man kann die gesamte Aufgabe der Wissenschaftslehre so ausdrücken: Wie kommt das Ich dazu, aus sich selbst herauszugehen? 

Dieses geschieht auch durch Vermittelung: die, dass das Ich nun zuvörderst herausgehe aus seinem ursprüng- lich Reinsten, aus dem Denken; daraus geht es fort zu dem Gefühl, //197// dies vermittelt das Herausgehen aus sich selbst, die Annahme einer Außenwelt. Der Platz nun, wo an das bloße Denken sich etwas anknüpft, was kein Denken ist, ist hier. Hier wird vom Denken fortgegangen zum Gefühl. Aber wenn wir dies noch näher ansehen, so scheint es doch nicht Stich halten zu wollen.

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 Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 195ff.


Nota. -  Dass das "ursprünglich Reinste" des Ich das Denken wäre, bedarf dringend der Erläuterung. Gemeint kann hier nur sein: das reine Wollen. So ist 'das Denken' an dieser Stelle nicht ein Denken überhaupt, sondern das Denken eines Zweck begriffes. Denn ob dieser oder jener Zweck gesetzt wird, ist im Denken noch schwebend, nur dass einer zu wählen ist, ist ihm vorgegeben. Nicht das Deliberieren, sondern die Zweckhaftigkeit ist das Wesen des Denkens: reines Wollen. 'Bloßes Denken' ist Deliberieren und Wollen, "das erste ist problematisches, das zweite kategorisches." Im übrigen kommt es auf die Terminologie nicht an. Sachlich ist immer die Rede von einem relativ Unbestimmten, das im sich-Bestimmen allezeit voranschreitet.

Wohlbemerkt: Es wird nicht behauptet, dass es dies muss. Denn wozu es bestimmt ist, hat es ja eben selber zu bestimmen. Warum kann dennoch die Wissenschaftslehre festen Schrittes vorwärtsgehen und ihrer Sache sicher sein? Sie beschreibt ja jenes Bewusstsein, das den Fortschritt zu Vernunft getan hat; ob das notwendig war, braucht sie nicht zu erörtern, sie setzt im Gegenteil voraus, dass es aus Freiheit geschah, sonst war all ihre Arbeit umsonst. Was man von ihr aber verlangen kann, ist: dass sie uns zeigt, wie es möglich war. Anders als die dogmatischen Metaphysiken, die ihr vorangingen und den Weltengang auf strenge Notwendigkeit bauten, darf die Transzendentalphilosophie sich darauf beschränken, die Bedingungen der Möglichkeit einzusehen. Möglichkeit ist ein Abkömmling der Freiheit, und nur auf Freiheit gründet die Transzendentalphilosophie ihre Wirklichkeiten.
JE





Nota - Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und ihre Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Ihre Nachricht auf diesem Blog.  
JE

Sonntag, 22. Juli 2018

Eine ursprüngliche prädikative Qualität.

 

Was es auch sein möge, das den letzten Grund einer Vorstellung enthält, so ist wenigstens so viel klar, dass es nicht selbst eine Vorstellung sei und dass eine Umwandlung damit vorgehen müsste, ehe es fähig ist, in unserm Bewusstsein als Stoff einer Vorstellung angetroffen zu werden. / Das Vermögen dieser Umwandlung ist die Ein- bildungskraft. – Sie ist Bildnerin. Ich rede nicht von ihr, insofern sie ehemals gehabte Vorstellungen wieder her- vorruft, verbindet, ordnet, sondern indem sie überhaupt etwas erst zu einer Vorstellung macht. – Sie ist insofern Schöpferin des eigenen Bewusstseins. Ihrer, in dieser Funk//tion , ist man sich nicht bewusst, gerade weil vor dieser Funktion vorher gar kein Bewusstsein ist. Die schaffende Einbildungskraft. Sie ist Geist. 

Resultat. Dieses Bild müssen wir selbst bilden. 

Nun muss im Ich das legen, was sie bildet. 

(Wo ist der eigentliche philosophische Beweis dafür, dass die Einbildungskraft etwas im Ich zum Gegenstande haben müsse? - - Sie ist tätig - aber nicht auf das Ich, sondern auf ein Nicht-Ich. - Das Ich ist schon, wenigstens virtualiter, hevorgebracht, denn sowie sie ihr Produkt vorhält, hält sie es dem Ich vor. Das Ich wird aber nur durch Unterscheidung von einem Nicht-Ich hervorgebracht. Mithin muss ein solches zu Unterscheidendes vorhanden sein: und zwar im Ich vorhanden sein. -

Wie und warum im Ich? - Es kann nur durch ein Vermögen des Ich vom Ich unterschieden werden; mithin muss es Gegenstand dieses unterscheidenden Vermögens sein - also schon in diesem Vermögen liegen. - Eine Qualität, eine prädikative, des Ich. 

Die (schaffende) Einbildungskraft selbst ist Vermögen des Ich. (Könnte sie nicht das einzige Grundvermögen des Ich sein? - Nein, darum nicht, weil das Produkt derselben vom Ich unterschieden wird: also auch nach ihrer Funktion noch ein Ich da ist.) Also es muss einen höhern Grund ihres Schaffens im Ich geben. - (Heißt im Grund das gleiche als: Es muss nocht etwas übrig bleiben, was Substrat des Ich ist, auf welches das Produkt der Einbil- dungskraft bezogen wird, und das ist offenbar das Fühlende, und im Gefühl liegt mithin der Urstoff des [sic], was die Einbildungskraft bildet. __________________________________________________________________________________ 

Von den Pflichten der Gelehrten, Hamburg 1971 [Meiner], S. 126f.; desgl. in Gesamtausgabe II/3, S. 297f.  

 
Nota. - Geist ist toto genere Einbildungskraft. Aber das Ich ist nicht Geist (vom empirischen Individuum ganz zu schweigen). Wenn die Einbildungskraft nicht etwas vorfindet, das sie dem Ich ein/bilden kann, ist sie arbeitslos. Nicht das, was sie vorfindet, bildet die Einbildungskraft, sondern das, was sie vorgefunden hat: das, was es ist, was es bedeutet

Vorgefunden hat sie das krude Sinnesdatum: Gefühl. Das ist der Stoff, an dem die Einbildungskraft arbeitet. Er ist, auch ohne Einbildungskraft; er ist lediglich nicht dieses oder jenes.

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So apodiktisch wie an dieser Stelle hat es Fichte meines Wissens nie wieder ausgesprochen. Natürlich: Denn es ist ein Ergebnis des Systems, das er doch erst noch auszuarbeiten hatte. Und wenn er es auch je fertig ausgearbeitet hätte: Eine "feste Terminologie" ist der Wissenschaftslehre fremd, weil sie nicht erlernt, sondern nur selbstgedacht werden kann. Für didaktische Zusammenfassungen dieser Art gäbe es nach Vollendung der Wissenschaftslehre keinerlei Berechtigung.
 

Die Stelle kommt in dem öffentliche Vortrag vor, den Fichte im April 1794 noch vor Aufnahme seiner regulären Vorlesungen in Jena gehalten und sogleich in den Druck gegeben hatte. Zweck dieser öffentlichen Vorträge war, die allgemeine Idee einer Wissenschaftslehre eine weiteren, nicht spezifisch akademischen Publikum nahezubrin- gen. Es ist eine populäre Einlführung. Er musste den Ergebnissen seiner Untersuchung vorgreifen, wobei die eine oder andere gewagte Formulierung kaum zu vermeiden ist. Es ist ein didaktischer Vortrag, der den Gehalt der Wissenschaftslehre wie einen lernbaren positiven  Stoff vorträgt und also, nach Geist und Verfahren, durchaus in einem Widerspruch zu ihr steht.

Dass er die obige Stelle in dieser Form in den ausgearbeiteten Darstellungen der Wissenschaftslehre nicht wieder aufgegriffen hat, hat also philosophischen Sinn. Doch steht sie ganz am Anfang seiner Lehrtätigkeit, und die historisch-philologische Frage, wie Fichte sich die Wissenschaftslehre zu Anbeginn vorgestellt hat, rechtfertigt es, die Stelle dem wissenschaftlichen Vortrag voran zu stellen.

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Die pointierte Voranstellung der Einbildungskraft ist das zunächst Bemerkenswerte. Fast möchte man schluss- folgern, die Einbildungskraft sei das eine und ganze Vermögen des Ich! Doch nein, die Hervorbringungen der Einbildungskraft müssen vom Ich doch immerhin so weit unterscheidbar sein, dass das Ich sich als eine "prädi- kative Qualität" über sie stellen und sie beurteilen kann. In den Ausführungen der Wissenschaftslehre wird sie uns als absolutes Wollen wieder begegnen. Der harte Kern des transzendentalen Ich ist seine Fähigkeit zum Urteil. Und sie ist nicht bloßer Geist! Als Urteilskraft = Wollen sind Geist und Sinnlichkeit noch ungeteilt.

Wir verstehen den tieferen Sinn von Fichtes Bezeichnung der Wissenschaftlehre als 'echten druchgeführten Kritizismus'.
JE
 










Nota - Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und ihre Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Ihre Nachricht auf diesem Blog.  
JE

Samstag, 21. Juli 2018

Ich soll wollen.


Zuvörderst kommt die intellektuelle Anschauung nicht unmittelbar vor, sondern sie wird in jedem Denkakte nur gedacht, sie ist das Höchste im endlichen Wesen. Auch der Philosoph kann sie nur durch Abstraktion und Reflexion zu Stande bringen.

Negativ gesehen ist sie keine sinnnliche [Anschauung]. Die Form der sinnlichen Anschaunng ist Übergehen von Bestimmbarkeit zu Bestimmtheit. Die muss in jenem [reinen] Wollen, insofern es intellektuell angeschaut wird, ganz und gar wegfallen, und es bleibt nur übrig ein bloßes Anschauen unserer Bestimmtheit, die da ist, aber nicht wird. ... Es wäre sonach ein bloßes Anschauen meiner selbst als eines Bestimmten. 

Wie wird nun diese Bestimmtheit erscheinen? Erscheinung passt nur auf sinnliche Wahrnehmung, wie kommt sie also in der sinnlichen Wahrnehmung vor? Als ein Wollen, aber das Wollen ist nach dem Obigen ein Sollen, ein Fordern. Sonach müsste diese Bestimmtheit erscheinen als bestimmtes absolutes Sollen, als kategorische Forderung. 

Diese bloße Form des Wollens, diese absolute Forderung ist noch nicht das Sittengesetz. Dieses wird es erst, indem es auf einen sinnliche Willkür  bezogen wird, und davon ist hier noch nicht die Rede.
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 142


Nota. - Wir sind hier noch (oder wieder) bei der intellektuellen Anschauung: Ich schaue mich an als einen Be- stimmten; einen als wollend bestimmten. Ich soll mich als einen Wollenden anschauen - das heißt, ich kann mich als einen nicht Wollenden nicht einmal denken. Was übrigens empirisch zutrifft: Als bloßen Stoffwechsel kann ich mich nicht denken; kann ich entweder nichts denken, oder nicht mich denken.

Das wird von nun an den Fortgang der Wissenschaftslehre bestimmen: Aus dem absoluten Wollen ist ein kate- gorisches Sollen geworden. 'Du sollst wollen' wäre absurd im Munde eines jeden, der es ausspricht. Ich soll wol- len heißt nichts anderes als: Ich bin als ein Wollender vorbestimmt. 'Bedingt unfrei'? Weil er seinen ursprüngli- chen Akt der Freiheit, sein sich-selber-Setzen nicht wirklich anschauen, muss er sich (wenn er will) reflektierend "intellektuell" anschauen: ex post, als einen sich selbst voraus-Gesetzten. 

Doch recht besehen bedeutet die Aufforderung zur Freiheit, die von der 'Reihe vernünftiger Wesen' an mich ergeht, nicht anderes als: "Du sollst wollen!"
JE


Freitag, 20. Juli 2018

Das intellektuelle Gefühl - eine bedingte Notwendigkeit.

 
Es ist klar, daß dieses Gefühl nur mein Denken begleitet und nicht eintritt ohne dieses. – Daß das Gefühl eine Wahrheit geben solle, ist unmöglich und würde keinen Sinn haben. Es, dieses Gefühl der Gewißheit und Wahr- heit, begleitet nur ein gewisses Denken.

Es ist klar, daß, wenn ein solches Denken die Bedingung der Vernünftigkeit selbst ist und das Gefühl der Ge- wißheit unabtrennlich einfaßt, alle Menschen über dieses Gefühl übereinkommen müssen und es jedem anzu- muten ist, wenn es ihm auch nicht anzudemonstrieren wäre, welches in Absicht des Unmittelbaren überhaupt nirgends stattfindet. 

Es ist dieses Gefühl ein intellektuelles Gefühl.

Es ist dies der Grund aller Gewißheit, aller Realität, aller Objektivität.

Das Objekt ist ja nicht durch die sinnlichen Gefühle: denn auch diese sind nur Prädikate desselben, die schon ein Objekt, schon eine Erfassung dessen, was eigentlich nur subjective [sic] ist, voraussetzen. Es ist durch das Den- ken. – Drum ist dieses nicht ein bloßes Denken. Woher das in ihm entsprechende [sic]? Aus dem intellektuellen Gefühle. .../


Es begleitet das Denken, daß zu der Realisation des durch unsere moralische Natur uns gesetzten Zweck[es] der absoluten Selbstständigkeit der Vernunft Annäherung möglich sei, und daß die pflichtmäßige Erfüllung unsrer Schuldigkeit in unsrer Lage, lediglich um der Pflicht willen, Bedingung der Annäherung sei.

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Rückerinnerungen, Antworten, Fragen [S. 147/149]



Nota. - Unsere moralische Natur ist selbst nichts anderes der Zweck der absoluten Selbstständigkeit der Vernunft, und 'gesetzt' hat ihn sich das Ich, indem es sich selbst gesetzt hat. Der Denkzwang ist nichts anderes als die Ein- sicht: Wenn es [bei der absoluten Selbsständigkeit] bleiben soll, dann muss ich [den folgenden Schritt tun...]. Die Notwendigkeit dieses Denkens ist durch mein absolutes Anfangen bedingt. Nicht formallogisch ist es notwendig (weil), sondern sachlogisch (damit).
JE






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JE